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Jean Pauls

Biographische Belustigungen

unter der Gehirnschale einer Riesin

Eine Geistergeschichte

 

Erste biographische Belustigung

Die bleierne Jungfer Europa - das Schlachtfeld - die Melancholie - der Frühling.

Auf der Chaussee, den 28. April 1795.

Auf nichts ist die Welt in Büchern so erpicht als auf das, wovor ihr auf den Theatern so ekelt - aufs Erzählen. Der Leser hat sich kaum in sein Schlaf-, Lese- und Schreibkanapee gesetzt und ich mich in meinen Reisewagen: - sofort soll ich eintunken und meine Historie anfangen. Ich beteur' es ihm, ich erzähl' ihm eine - und die außerordentlichste dazu; - aber hier auf dem Schreibetische des Reisewagens ist nicht daran zu denken: es muß abgewartet werden, bis ich die erste biographische Belustigung zu Ende gebracht, die nicht länger währen kann als der Weg nach Waldkappel. Bin ich freilich in diesem Lustschlosse, das prächtig wie ein Obeliskus in der Schultheißerei Neuengleichen steht, übermorgen ausgestiegen: so setz' ich mich - ich verpfände mein Ehrenwort darauf - nieder und erheitre mein Auge an den entfalteten Pfauenspiegeln der Auen, an der Goldlasur des Horizonts und an den kouleurten grünen und weißen Lustfeuern des so eilig abbrennenden Frühlings und zeichne dann, mitten in diesen Lichtern, der Nachwelt die sonderbare Geschichte des vorigen Winters ab, die man schon im ersten Kapitel verlangte. Ich könnte sie auch unmöglich hier im Fürstentume Flachsenfingen, wo ich fahre, schon geben, hier, wo ich noch alle Gerüste, Kulissen und Opernkleider der ausgespielten Szenen samt dem eng zusammengerollten Theatervorhang der vergangnen Zukunft um mich sehe. Ach ich dürfte ja nur das Wagenfenster niederlassen und hinausschauen: so würde der Wagen gerade vor der Stätte vorüberrollen, wo meine Seele in dem Erdbeben zitterte, von dem meine Feder, wie ein von Salsano in Neapel erfundner Erdbebenmesser, die Richtung, die seine Stöße nahmen, jetzt auf dem Papiere nachmalt!....

Solang' ich fahre, schreib' ich oder schlaf' ich: denn unter der ganzen Fahrt kömmt der Wagenfenster-Vorhang nicht weg, und ich werfe keinen Blick hinaus; und das bloß deswegen:

Es ist aus astronomischen Gründen erweislich - im Grunde darf man nur die Augen auftun -, daß in Flachsenfingen heute, den 28sten April, wo ich abreisete, die dekollierte Allee noch aussah wie abgewetzte Besemen, womit der Winter den Frühlingshimmel rein gefegt - daß der Hofgärtner noch alle Gemüser aus den Mistbeeten liefern mußte - und daß die Wiesen, wodurch ich diesen Morgen kam, nichts Bessers waren als lebendige Herbarien mit der aufgeklebten falben flachsenfingischen Flora; die Faun ist noch nicht einmal aus der Erde. Das ist nun besser, als ich mirs wünschen konnte.

Denn in Waldkappel, wohin ich übermorgen gebracht werde, ist dafür schon ein ganzer voller lichter Frühling wie eine Sonne aufgegangen, der die dasige Natur mit Brautnächten und Schöpfungstagen überhäuft: alles quillt, blüht, schillert und singt schon dort. Ich kann also, wenn ichs recht mache, aus dem flachsenfingischen braun-gegitterten Sparrwerk des Lenzes auf einmal in den ausgebauten blendenden Sonnentempel desselben treten. Und zu diesem Zwecke wird die erste Belustigung geschrieben; und ich bitte die guten Leser, es gern zu sehen, daß ich mir die Langeweile der drei Tag- und der zwei Nachtreisen dahin, die ich völlig eingemauert unter der Himmelhaut der Kutsche versitze, durch schönes Ausschweifen und Sprechen mit ihnen verkürze: ihnen kömmts ja auch zustatten, wenn ich nachher den Frühling prächtiger nachsteche. Welch ein einfältiger Mann müßte überhaupt der sein, der unter dem Fahren aus dem Wagen gucken und sich von den Ländern, wodurch er rollt, den Frühling heft- und scheibenweise in den Schoß wollte schneiden lassen - zuerst Grasspitzen - dann Staudenblätter - dann sechs gelbe Schmetterlinge und ebensoviel gelbe Blumen - und endlich mehrere grüne Birkengipfel als Bier- oder Birkensaftzeichen! Könnte denn ein solcher Mann nicht bedenken, es sei kein Unterschied, ob er sich von der Zeit oder dem Raum den Frühling wie einen zerlegten Gliedermann Glied vor Glied zubröckeln lasse? - Beim Himmel! die Natur soll übermorgen wie eine riesenhafte Göttin mit allen ihren Strahlen, Adern, Reizen und Girlanden Knall und Fall aufrecht vor mir stehen, und ihren Schleier sollen Frühlingslüfte weit aufheben und über mich wegwehen: ich werde schon zu seiner Zeit, wenn mirs zuviel wird, erblinden und umfallen. - -

Solange Schnee fällt, will der Mensch alle vier Welt-Ecken bereisen; - bricht aber das Frühjahr an, so schlägt er zwei seiner besten Vorsätze aus der Acht, erstlich den, früher aufzustehen, und zweitens eben den obengedachten. Ich bin - das sieht Europa - anders und reise jährlich. Aber in diesem Jahre ist noch dazu der Fall dringend.

Es ist nämlich wenigen Menschen in Deutschland unbekannt, daß ich in der Stadt Flachsenfingen im Schlosse des Fürsten wohne, und zwar (in gewissem Sinn) als apanagierter Prinz: ich darf das bei Deutschen voraussetzen, da ich in den Hundsposttagen, deren Ballen vielleicht heute (den 28sten April) ohne mein Wissen neben ihrem Verfasser vorbei und auf die Ostermesse fahren, über meine wichtigsten Personalien deutlich genug herausgegangen bin. Nun wurzl' ich hier am Throne und Hofe, wo man alles in der Welt bequemer machen kann als ein Buch. Man hat keine Zeit - kaum erübrigt man soviel, um noch etwas Wichtigers zu machen, nämlich so viele Besuche wie ein Arzt, deren z. B. der Arzt Antonio Porcio in Neapel täglich dreihundert ablegt. Ich ging also meinen Herrn Vater - ich will Se. Durchlaucht so nennen - um eine Dispensation von der Hoftrauer, d. h. um die Erlaubnis an, nach seinem Lustschlosse Waldkappel zu reisen und da im blühenden singenden Freudenhimmel - worein ohnehin so wenig einer vom Hofstaat will als in den künftigen - das Frühjahr einsam zu verschweigen, d. h. zu verschreiben. Denn in der Tat, da will ich eben gleich der webenden Gartenspinne unter freiem Himmel, und von nichts eingeschlossen als von Blüten, wieder mein biographisches Weberschiff durch historische Fäden werfen. Wahrlich, ich kann nicht genug schreiben, nicht einmal für mich selber; so viel lieset heutigestags ein Mensch.

Aber auch ohne Dintenfaß und Federbüchse hätt' ich nach Neuengleichen fahren müssen, schon bloß des Frühlings wegen: denn hier denke man nur nicht daran, nur in einen Gießbach oder in ein grünes Kabinett auf eine gescheute, d. h. gerührte Art hineinzusehen, ich meine hier unter den durch Glanzpressen und Druckwerke schlank und fein gezognen Hoffiguren, die die Nudelmaschine dieses Säkuls wie Nürnberger Makkaroni in Kellern als zartes Gewürm ins Leben drückte. Ich besiegt' es hier mit meinem Ehrenwort, wir warten es allemal ab, bis die Blütezeit in etwas verstrichen ist; dann nehmen wir Pferde und eilen sämtlich in die englischen Anlagen, Villen und Lusthölzer hinaus - dann durchziehen wir in geselligen Marschsäulen die Einsiedleien oder Solituden und suchen, ohne den Transitozoll des Ennui zu umfahren, durch unsern gemeinschaftlichen Genuß das Vorurteil zu schwächen, als ob Höflinge, Damen und Leipziger Lerchen madig würden, wenn sie so gepackt sind, daß sie einander berühren - und endlich schießen wir uns aus den 24 Stunden eines astronomischen Tages gerade die wenigen freien zum Promenieren aus, die zwischen das Dinieren und Spielen fallen. Es würde alles noch besser genossen werden, wenn das Herz des einen und des andern nicht so eng zusammengezogen und eingeschnürt würde durch etwas, was seine Pflicht ist - so eng, daß er in seinen Herzkammern kaum für eine fremde Blume, geschweige für eine ganze Abendsonne, oder eindringende Frühlingswelt, oder gar für einen vollen Sternenhimmel Platz zu machen imstande ist - und dieses pflichtmäßige Etwas, was man ihm ansinnen kann, ist jenes Kaimans-Lauern auf die kleinste moralische Lücke und Blöße, die entweder ein Fürst oder seine Diener geben, und die stets von Bedeutung ist, weil alsdann entweder in den erstern der Saug- und Legestachel, oder in die andern der Giftstachel eingesetzt werden kann. Etwas Ähnliches findet sich - wie ich in Krünitz lese - auf Madagaskar, nämlich ein Insekt, namens Akadandef, das, gleich unsern Roßbremsen, über den Tieren dem Augenblicke des Stallens auflauert, um sofort in ihre Eingeweide zu schleichen, die es zernagen will. Der beste Fürst kann zugleich der Erbfeind, der Augenzeuge und der Blutzeuge oder Märtyrer eines Akadandefs sein. -

Es ist lächerlich; aber ich lasse mir doch jetzt aus einem Gasthofe außer meinem Gouter ein Licht in meinen Wagen geben, weil es hier bei mir wie bei Tal-Insassen früher finster wird. Bei solchen Verleugnungen und Absichten konnt' ich daher einem blumigen Kammerherrn - sonst dem glatten Stockknopf des ganzen Kammerherrn-Stabs - unmöglich willfahren, als er mich sonntags anlag, unterweges in Wirzburg auszusteigen und beim Guardian des Minoritenkloster, P. Bonavita Blank, einzusprechen, der die ganze Natur von jedem Bergkessel bis zu jedem Blumenkelch zu seinem Färbekessel und Schmuckkästchen macht. Dieser malerische Pater (das hab' ich auch von andern, die alles gesehen) malt oder schafft seine Landschaften nicht aus oder mit Farbenkörnern, sondern aus oder mit ordentlichen Sämereien, gleichsam aus der Musaik des Ewigen - die Vögel aus ihren eignen Federn - Weiberschuhe aus Tulpen-, nicht Schuhblättern - den Staubbach aus Moosen - das Abendrot aus herbstlichem roten Laube - kurz die große Natur aus der kleinen. - - »Der größte Maler,« (sagt' ich ernsthaft zum Kammerherrn) »den ich je in diesem Fache noch gesehen und dessen Stücke der Minoriten-Guardian vielleicht in der Schweiz oder in Franken zu studieren Gelegenheit gehabt, dieser Maler, der imstande ist, zu Waldungen keine kleinere trockne Tusche zu nehmen als ganze Fichtenbäume und zu Gebirgen Felsen, zu Menschen Erdschollen und Äther, zu Himmeln Sonnen, dieser Artist, Herr Kammerherr, bei dessen Blättern ich Sie einmal vorzutreten rate, das ist unser Herr Gott.«

Jetzt leg' ich mich an den Seitenpolster und schlaf' ein und aus.

Den 29. April.

Ich gehe jetzt durch den Morgenglanz, und aus dem kalten blauen Himmel quillt eine länderbreite Flut von stählenden Frühlingslüften nieder, dringt in Tropfen durch meine Wagenfugen und badet meinen heißen Mund - die Lerchen fahren in ganzen Singschulen, gleichsam mit den Flügeln prall-trillernd, vor meinem Kasten empor, und überall schlägt ein frisch aufgequollnes Lebensmeer über meine Täucherglocke zusammen. - Aber ich muß jetzt die Feder wegwerfen, sonst nötigt mich meine vorlaute durstige Natur, nach nichts zu fragen und die Fenster einzustoßen und auf den guten Frühling mit meinen Blicken loszufahren, eh' er sich nur halb in die Kleider geworfen....

Schon an der gekerbten, schartigen Straßen-Treppe vermerk' ich, daß wir jetzt über die flachsenfingischen und **lichen Herkulessäulen heute nacht hinausgekommen sind. Auch werden die Gegenden immer wärmer. Denn Waldkappel liegt sehr südostöstlich.... Beiläufig! ich werde doch nicht zu besorgen haben, daß irgend jemand (etwan ein Ausländer) mein Waldkappel mit einem ganz andern, in der Landschaft an der Werra belegnen Waldkappel vermenge, oder meine Schultheißerei Neuengleichen darneben mit einer Namensbase in Katzenelnbogen? Die beiden Ortschaften, die Sr. Durchlaucht gehören, liegen ja an- und ineinander, aber die zwei andern gleichnamigen bekanntlich nicht. Ich hoffe überhaupt, daß niemand einen dermaßen abbrevierten Kursus in der Erdbeschreibung absolviert hat, daß er nicht weiß, wie sehr das Fürstentum Flachsenfingen, gleich dem niederrheinischen Kreise oder gleich Abdera, fast in alle deutsche Kreise verzettelt und zerworfen ist.

Eben läuten die vorübergetragnen Viehglocken die lärmende Messe des Tages ein - die Hirten klatschen - Rebhühnervölker knattern wie Raketen auf - mein Sattelgaul wiehert zu dem unten in den Wiesen naschenden Marstall hinab - betaute Äste schlagen, vom Kutscher abprallend, an den Wagen - und alles lärmt und lebt.

Es ist dem Publikum nicht zu verdenken, wenn es jetzt hofft, ich werde meine Zeichnungsmaschine mit dem Transparentspiegel aufsetzen und ihm damit einen vorläufigen Umriß von Waldkappel geben; aber ich war noch nicht dort und kann also nichts davon liefern als statt der Gemälde Aussagen. Was ich vernommen habe, ist, daß die Gegend sehr reizend ist und daß die Jungfer Europa darin steht. Von dieser Jungfer, auf die ich mich sehr freue, erstatt' ich für die, die nicht in Flachsenfingen wohnen (wer es schon weiß, überschlägt es), folgenden Bericht:

Mein Großvater, regierender Fürst von Flachsenfingen, der ein bekannter lebenslanger Rival von Hessenkassel - nämlich vom dasigen Landgrafen Friedrich - war, konnte sich über nichts so sehr entrüsten als über dessen »Winterkasten« und am meisten über den kupfernen Herkules darauf, - und das darum, weil er einen solchen Kasten und metallnen Goliath nirgends in seinem Territorium vorzuweisen hatte. Wenn zuweilen ein hoher Reisender oder gar ein vornehmer Hesse, der nichts von der Nebenbuhlerei gehört hatte, über der Tafel den hochstämmigen Enaks-Sohn oder Christofel - so nennt ihn der kasselsche Pöbel -, so gut er konnte, nach dem Leben schilderte, wenn er deswegen anführte, daß der Titan 31 Fuß messe (ohne das Stativ), daß folglich sein Ellenbogen unter kein preußisches Rekrutenmaß gehe, und wenn endlich der hohe Reisende mit dem letzten aufgesparten Zuge zu überraschen gedachte, daß der Orlogskopf zehn Mann, die noch dazu die herrlichsten Aussichten aus dem Schädel haben, recht bequem logiere und sein Keulen-Bloch nur die Hälfte: so wurde meinem Großvater vor Ärger nicht nur grün und gelb vor den Augen, sondern sein Gesicht nahm selber diese Farben an, und alle Hofkavaliere sahen es schon voraus, daß er mehr Bauernkrieg1) als gewöhnlich (das sicherste Zeichen seines Grimms) sich werde servieren lassen. Das Beste wäre die Baute eines ähnlichen Winterkastens samt Zubehör gewesen, damit wieder der Landgraf von Hessenkassel seinerseits von hohen Reisenden über der Tafel durch Erzählungen hätte geärgert werden können. - - Das wollt' auch mein Großvater längst, konnt' aber nicht, weil der dem Winterkasten zur Unterlage nötige Geldkasten die einzige Stelle im Lande war, die man nicht durch Geld besetzen konnte.

Er sann überall darüber nach, auf der Jagd, in der Oper, in den Alleen, aber umsonst - er wollte (um nur Geld zu kriegen) gern alles tun, was einem Fürsten erlaubt ist - er wollte alles stempeln, sogar das Löschpapier, die Brandbriefe der Spitzbuben, jeden Privatbrief und alle Wappen und Pitschaften - er wollte die toricellische Leere richtig halbieren zwischen dem Kammerbeutel und der Chargenkasse - er wollte verpfänden und vermieten (nämlich Schatullgüter und Landesstiefkinder) - er wollte die Justiz wie einen vornehmen Fremden an den Hof ziehen und die plumpe Gerechtigkeitswaage umarbeiten lassen zu einer Perlen- und Probierwaage für die Themis als Hofbankierin - - - er wollte das alles mit dem größten Vergnügen tun; aber es war nicht zu tun: denn eben alles dieses hatt' er - schon getan für geringere Staatsausgaben.

Der Kammerpräsident und sein Sohn dachten noch mehr darüber nach, und brachten fast noch weniger heraus.

 

So heißet oder hieß ein Rheinwein, der so alt wie dieser Namensvetter war, - ich denk', in Straßburg.

Zum Glück hielt gerade damals der Oberbau- und Gartendirektor um seine Entlassung an, um nach Wien zu gehen und da etwan in der Akademie der bildenden Künste »Lehrer der Ornamente« zu werden. Wie wenig er aus Mißvergnügen über seinen Dienst weg wollte, das suchte er dem Fürsten dadurch zu zeigen, daß er um eine mündliche Unterredung ansuchte und ihm darin nicht nur einen neuen Riß zu einem prächtigen Sommerkasten - eben zum Waldkappel, wohin ich gehe -, sondern auch die besten Ratschläge gab, die Baukosten zu erschwingen. Er dachte viel dabei; das sieht man, weil ihm mein Großvater statt der Dimission durchaus nichts gab als das uneingeschränkte Inspektorat über die Kasten-Baute.

Was er vorschlug und durchtrieb, war zusammengesetzt: »Man sollte auf dem nächsten Landtage den Syndikussen sagen, eine neue Steuer legten diesesmal Ihro Durchlaucht, obwohlen Sie könnten, gar nicht auf, sondern auf einen Steuernachlaß wär's alles abgesehen. Se. Durchlaucht müßten bekanntlich nach dem Reichsmatrikularanschlag dem Reiche Vieh und Menschen stellen: das könnten Sie nun dem Lande wieder abfodern; aber Sie möchten nicht - bloß als einen seinsollenden Ersatz bedingten Sie sich für jede 25 fl. rhnl., die einer habe, einen elenden Nürnberger Bleisoldaten zu Pferde (oder das Geld dafür), welches bleierne Kontingent noch dazu bloß zu einer großen Jungfer Europa vergossen werden sollte. - Sie wüßten recht gut, daß ein Untertan als ein zweiter Milo leicht das wachsende Kalb der Abgaben und Lasten trage und daß mit dem Kalbe das Tragvermögen wachse, und daß das zum Ochsen ausgestreckte Tier so leicht wie ein Taufpate in den zähen Armen herunterhänge. Inzwischen hofften Sie, bisher die Tragemuskeln, wenn nicht gestärkt, doch auch nicht sehr geschwächt zu haben; und Sie hielten es für moralisch-, wenn auch nicht für politisch-gut, in den nächsten 25 Schaltjahren1) nicht einen Heller Steuer anzunehmen. Sie hätten sich vielmehr entschlossen, außer dem Gelde auch das Blut der Landeskinder zu besparen und zu bewachen; und daher wollten Sie, da den Badern mehr Blut und Leben aufgeopfert würde als dem Fürsten, eine Kopf- oder Fußsteuer, die als Strafe abhalten sollte, auf jede Aderlaß und auf jedes Schröpfen ausschreiben.«

Es ging gut. Da man aber nicht wissen konnte, ob nicht ein Steuer-Defraudant heimlich Blut lasse: so mußte jeder in Pausch und Bogen die Blut-Gebühren entrichten, und Reiche, bei denen Plethora und Blutlassen zu präsumieren waren, mußten sie jeden Quatember abführen, wie die Klöster viermal jährlich zur Ader lassen - und so war die Krone sozusagen selber der transzendente Schröpfkopf, wie der Zepter der Schnepper. Dieser Blutzehent lief unter dem Namen der Jungfern-Schröpf- und Europas-Steuer ein.

Beiläufig! Sonst wurde der Mörtel zum Staatsgebäude, wie anderer, mit der Wolle oder den Haaren und dem Blute des Untertans zugleich festgeknetet; jetzt aber wird mit dem Blute dieses Tiers bloß im Kriege der Zucker des Friedens raffiniert. So wenig hat eine freie Regierungsform, wo nur die Gelder der Landessassen zu nehmen stehen, mit einer despotischen gemein, wo man auch das Leben anpackt; auf gleiche Weise wurde dem Teufel (besonders anfangs) nur vergönnt, Hiobs Effekten und Immobiliarvermögen anzutasten, nicht aber sein Leben, was viel später geschah.

Aus der Blei-Soldateska und aus der Blut-Akzise wurde nun eine kolossalische Jungfer Europa gegossen, die drei Ruten lang ist und also 5 rheinländische Zolle mehr hält als der hessische Herkules. Ich werde übermorgen erstaunen, wenn ich sie ansehe. Im Kopfe des modischen Kolossus soll man (les' ich) wie in Herschels Teleskop ein musizierendes Orchester eingestellt haben; aber unter dem Kranium der Miß Europa soll (hör' ich) ein ganzes besetztes Inquisitions-Gericht mit seinen Sessionstafeln Platz genug vor sich haben. Das ist keine Unmöglichkeit; - aber noch gemächlicher muß im Kopfe ein kleines Schreibepult und ein Sessel aufzustellen sein. Wenns also bei jetziger Jahrszeit in der Blei-Riesin nicht zu kalt ist: so wird übermorgen der erste Ausflug, den ich in Waldkappel tue, der in Europas Kopf sein (es geht innen eine Treppe bis an den Hals); und ich gedenke, unter ihrer Hirnschale meinen Schreibetisch wie ein Nähkissen einzuschrauben und daselbst - indem ich zugleich aus ihren Augenhöhlen die herrlichste Aussicht von der Welt genieße - den größten Teil der gegenwärtigen Belustigungen und Mémoires ungemein heiter abzufassen....

Ich habe mich und den Leser schläfrig geschrieben. - Morgen mehr! - Ich wollt', ich wär' in Europa! -

*

Den 30. April.

Mit Vergnügen horch' ich oft, wenn gefüttert wird, den meinen Wagen umkreisenden Satelliten zu, die meine Feder auf dem Papiere scharren hören und die doch vom Kopfe dazu nichts ansichtig werden können als den oben ausgepackten Hut seines Huts. Es ist ein neues Lustgefühl, so mitten im Gewimmel, durch den Gyges-Ring der Wagenkartause vergittert und unsichtbar, festzusitzen.

Als kleiner Junge wurd' ich oft von einem Schloßdrescher mit zugedrückten Augen durch alle Winkel getragen, und ich belustigte mich, fest an ihn geschlungen, an meiner eignen Angst über den verhüllten Weg, den ich zu vergessen und nicht zu erraten suchte: - wenn er endlich hart an einer Mauer stockte und ich aufsah und umher und ich konnte aus dem metamorphotischen Flächen-Chaos nicht sogleich ein bekanntes Zimmer zusammenschieben - - wie süß lösete sich da meine freiwillige Beklemmung auf!

Die Kutsche ist dieser Schloßdrescher: denn die Kinder machen überhaupt den Erwachsenen nicht mehr nach als diese jenen, und unser Kothurn ist oft aus lauter ausgezognen Kinderschuhen genäht. Ich kann nicht dreimal eintunken, ohne mich zu fragen: wobei wird es wohl jetzt vorübergehen? Manchmal hör' ich, daß ich vor der Ecke einer orgelnden Kirche - vor den offnen Fenstern einer schreienden Knabenschule - durch Schafherden - durch Wochenmärkte - vor Walkmühlen vorüberkomme. Jetzt um 8 Uhr (sagt' ich heute) muß die Deichsel gerade in ein Ländchen beugen, wo es noch mehr Landschaftsmaler geben sollte als Landleute. Es wird da für alle schöne Künstler, die in Griechenland bloß durch das Studium des lebendigen Nackten so hoch emporflogen, gewiß dadurch nicht am schlechtesten gesorgt, daß der Staat sie überall, wo sie nur einen Bossierstuhl oder ein Malergestelle setzen können, mit lauter Bauern umringt, die - weil sie nichts haben - so nackt sind, als rängen sie miteinander für Lorbeern in athenischen Gymnasien.

Ich wußt' es gestern nachts aus der bloßen Straßenbeleuchtung, die gerade vor den engen, finstern, für Beutel- und Kopfabschneider zugeschnittnen Sackgassen abbrach, wo ich wäre, nämlich in einer Residenzstadt, wo gerade die Armen das wenigste Licht haben sollen und das meiste der Hof.

Wenn ich jetzt meinen Kutscher fragen und ihn mit der Lenkschnur an den Kasten ziehen wollte: so würd' ichs hören, daß wir neben einem fürstlichen Lustgehölz - denn ich kenne das Schaf-Glockengeläute der japanesischen Tempel - fahren, wo der Minister an einer ähnlichen Lenkschnur den seinigen auf dem Throne zerrt, weil der Mann sich in diesen republikanischen Passatwinden den ganzen Tag ängstigt, jede Kannengießerei werde eine Stück- und Sturmglockengießerei und man läute ihn mit der neu gegoßnen Sturmglocke aus dem Lande, die doch (wie die Glocke im Franekerischen Wappen) gegenwärtig keinen Klöppel hat. -

Aus welchen Spinnenfäden ist oft das Band der Liebe gewebt! Ich sah, wie oft ein Mann mehr Interesse an einem andern nahm, bloß weil dieser den Namen seines Hundes gelobt - oder weil sie einerlei Leibgerichte oder Leibgetränke hatten - oder einerlei Schneider - kurz die kleinen Ähnlichkeiten des Zufalls, des Schicksals, des Körpers flicken die in ihren Nährahmen gespannten Menschen oft fester zusammen als die großen des Charakters. Und so bin ich selber: ich würde ordentlich die Leute mit mehr Interesse sprechen - und diese werden mich ihrerseits mit größerem lesen -, vor denen ich in der ledernen Nische hermetisch versiegelt vorüberzog; - und wers unter meinen Lesern machen kann, der sollt' es ausrechnen, ob ihm vom 28sten April bis zum 1sten Mai 1795 kein fest zugemachter Bärenkasten mit einem kleinen Gewitterableiter aufstieß: der Kasten enthielt eben den Verfasser dieser Belustigungen; und unter jenen Lesern und Zuschauern müssen (ich wollte drauf schwören) Leute von jedem Geschlechte gewesen sein - und Reise- und Staatsdiener - Primaner und Buchhändler, die alle Leipzig beziehen, um Kenntnisse mitzubringen und wegzubringen - Rechtsfreunde, die mit ihrer Diäten-Reiterzehrung zu einem fremden Gerichtsstand reiten, um nachzusehen, ob der venerierliche Gerichtsstand die Fakultäts-Siegel des zurückkommenden Urtels so unzerbrochen gelassen, als der Reiter präsumieren muß - rote Mädchen auf dem Felde mit einem roten schafwollenen Strick-Globus, und bleiche am Fenster mit einem weißen baumwollenen - einige, die mich rezensieren müssen und die den Geschlechtsnamen eines Autors ausplaudern und ihren eignen verkappen - Reichskammergerichts- und Eilboten - verakzisete k. Kammerknechte - Land- und andere Stände - Mendikanten - Obristkuchen- und Hammermeister - Pupillenräte - Nicolai - mein eigner Verleger - du! - der Minister von Hardenberg (wenn er anders schon aus Basel ist) und.....

- Beim Himmel! alle Menschen! - Wie einfältig ists auf der einen Seite, alle die nennen zu wollen, vor denen mein zugeknöpftes Geschirre kann vorbeigegangen sein, da ich ja die Namen des ganzen Adreßkalenders und aller Kirchenbücher hersetzen könnte - und wie schwer auf der andern, gerade wenn 1000 Millionen Menschen sich vor der Feder hinauf- und hinunterstellen, auf einige das Schnupftuch zu werfen. - -

Gute Nacht! Morgen schlaf' ich nicht mehr steilrecht.

Den 1. Mai.

So schrieb ich beim Erwachen; es ist aber falsch, und der 30ste April dauert noch: ich vermengte - wie ein Schwärmer - die Abendröte mit der Morgenröte. Nach welchen Gesetzen ist der Schlaf ein so zweideutiger Schrittzähler unsers schmalen Lebensweges und misset die Zeit bald mit Wersten, bald mit Meilen, bald so genau, daß man sein eigner Wecker sein und aufwachen kann, wenn man will? - Mit einem bangen Gefühle, wie man etwan eine aufwachende Schein-Leiche anfassen würde, wärmet man das vorgebliche kalte Gestern wieder zum Heute auf... Herrliche Abendröte! Widerschein einer langen, um Eden gezognen Rosenhecke! Die vier roten Strahlen, die die Sonne an meine Seele wirft, adeln mehr als die vier roten Linien im aragonischen Wappen, und alle nagenden Vampyre fallen vor ihrem Scheine welk vom entkräfteten Herzen herunter.... Ich habe mir hundertmal gedacht, wenn ich ein Engel wäre und Flügel hätte und keine spezifische Schwere: so schwäng' ich mich gerade so weit auf, daß ich die Abendsonne am Erdenrande glimmen sähe, und erhielte mich, indem ich mit der Erde flöge und zugleich ihrer Achsebewegung entgegenführe, immer in einer solchen Richtung, daß ich der Abendsonne ein ganzes Jahr lang ins milde weite Auge blicken könnte.... Aber am Ende sänk' ich glanz-trunken, wie eine mit Honig überfüllte Biene, süß-betäubt aufs Gras herab!

*

Den 1. Mai.

Nachmittags um 1 Uhr. Eine Sache oft denken, heißt, sie auf den Objektenträger des geistigen Vergrößerungsglases bringen, unter welchem sie Farben und Erhabenheiten - beide gehen unter dem physischen verloren - gewinnt. Ein kleiner Tag, ein geringfügiges Ziel, worauf man vier Tage Vorbereitungen und vier Umwege durch ebenso viele Vorsäle macht, wird zuletzt mit fieberhafter Erwartung ergriffen. Aber da bei mir noch dazu von keiner Kleinigkeit die Rede ist - denn vor der erhabnen Rotunda des Frühlings darf man schon mit einigen süßen Fiebern auszusteigen denken -, und da ich wirklich um 6 Uhr abends aussteige: so wären solche labende Wallungen nicht im geringsten unrecht; - aber ich habe keine einzige. -

Von einem kleinen Umstande kömmt es, der mich in den Augen eines versuchten Gliedes vom Generalstab lächerlich machen kann. Mein Kutscher sah nämlich einen abgezehrten Bauer nicht weit von uns aus einem Wasserbeete eine Kanonenkugel mit der Pflugschar ausackern; und sagte mir es in den Wagen mit dem Zusatze, daß wir eben über das - Schlachtfeld führen, wo vor einiger Zeit Frankreicher und Aristokraten ein ebenso blutiges als unnützes Treffen geliefert hatten. Einem, der das erstemal über eine solche Brandstätte und Arafnens-Tenne der Menschheit reitet oder fährt, greift eine solche Nachbarschaft nach dem Atem, er mag sich immerhin mehr als zehnmal fragen, ob denn nicht die ganze Erde ein ähnliches Schlachtfeld sei und jedes Meer eine Greve-Platz. Man nimmt keine Vernunft an: so weiß man z. B. recht gut, daß die ganze Erdkugel mit Begrabnen gleichsam überbaut ist und daß jeder Acker ein liegender Gottesacker ist, wie jeder Mensch ein stehender, weil unser Fleisch aus Totenstaube anflog: gleichwohl fasset uns ein Partikular-Kirchhof neben einer Kirche noch ebenso an, als wäre jenes alles gar nicht wahr.

Ich gab also meiner Phantasie lieber den Pinsel und Blut dazu und ließ sie eintauchen und malen. Aber als sie mir die von Wunden auftauchende Ebne vorhielt und den ruhenden Gottesacker aufdeckte und lebendig machte, wo ein Schmerz neben dem andern liegt: so schlug der stechende Gedanke wie eine durchwanderte Dornenhecke am tiefsten in die zerritzte Brust zurück, daß es einen Jammer gebe, den unser Mitleiden nicht umreichen kann, eine unabsehliche wimmernde Wüste, vor der das zergangne Herz gerinnt und erstarrt, weil es nicht mehr Gequälte, sondern nur eine weite namenlose Qual erblickt; denn ich konnte mit keinem Verwundeten neben mir seufzen, weil tausend andere, den Berg hinauf und die langen Gräben hinunter wie gefallne Blätter geworfne ja diesen Seufzer auch begehrten. O! nur vor Dem, der die Zukunft und die unendliche Liebe hat und den unendlichen Balsam, dürfen sich alle nasse Augen und alle roten Wunden der Menschheit auf einmal aufschließen; - aber vor dem kleinen zusammengezognen Menschenherzen nicht. Als ich das Schlachtfeld aufriß und den stillenden Blutschwamm des Rasens von den Rissen aller Hülflosen und Namenlosen und Schuldlosen weghob; als ich das gebogne Heer noch einmal fallen und noch einmal sterben sah: so wünscht' ich mir bloß eine eigne Wunde, um wenigstens auf diese Art mitzuleiden mit einer niedergebrochnen Generation, weil das enge Auge nicht mehr die Menschen beweinen konnte, sondern die Menschheit. Dürftiger Erdensohn! dein Arm kann Tausende auf einmal zerschlagen; aber kaum zwei Verwundete davon kann er an deine Brust ziehen, damit sie auf dem wärmenden Herzen ausbluten und zuheilen! Mehr Raum für mehrere Zerschlagne ist auf der Menschenbrust nicht; und darum ist es gut für das Leiden und für das Mitleiden, daß der Schöpfer die Unglücklichen auseinanderrückte, daß er jedes Herz nur an die Schmerzen und an das Sterben seiner eignen Freunde stellte. Aber der grausame Mensch wirft tausend zerstreute Sterbende, deren jeder auf der weiten Erde ein verwandtes Auge voll Trauer und Liebe und sein weiches Sterbekissen hatte, auf ein einziges hartes Schlachtfeld zusammen und lässet jeden allein vergehen auf einem kalten Grabe und fern von dem Auge, das ihn beweint hätte....

Diese Betrachtungen wurden von einem ländlichen Hochzeitgefolge, das mit heller Musik über die grünende Walstatt zog, nicht unterbrochen, nur gemildert: ach! ich wurde nur desto weicher über die Nachbarschaft, worin die fünften Akte unsrer Lustspiele so hart neben und nach den fünften Akten unsrer Trauerspiele gegeben werden. Was konnten die Frühlingslüfte, die sich flatternd in meinen Wagen einwühlten und ihn zugleich mit gedämpften Freudentönen und mit Apfel-Düften ausfüllten, mir auf dem traurigen Platze, über dessen Blumen sie gingen, anders zuwehen als den ernsten Gedanken: wie nahe liegt in unserm Leben wie auf den Alpen unser Sommer neben unserm Winter, wie klein ist der Schritt aus unsern Blumengärten in unsre Eisfelder! - Und doch wirft sich der Mensch in der Freude vor, daß er sie so leicht über den Kummer vergesse - und in dem Kummer, daß er ihn so leicht über die Freude vergesse. Aber der Vorwurf der Täuschungen ist oft nur selber eine trübere.

Um 4 Uhr abends. Obgleich in zwei Stunden der Frühling den Vorhang seines Operntheaters vor mir aufzieht: so will doch der beklommne Herzschlag, den mir die Ruinen meines Weges gaben und den die sanften Kirchengesänge in allen Dörfern am heutigen Aposteltage nur schwerer machen, in kein freudiges Pochen übergehen. Auf der äußern Welt liegt allemal der Widerschein unsrer innern, wie auf dem Meer der Widerschein des Himmels liegt, entweder als düsteres Grau, oder als helles Grün. Dieser schöne Abend müßte einem lichtern Tage zugehören als dem heutigen, wenn mich das Flüstern und Duften der Säulenreihe von Obstbäumen nicht beklemmen sollte, die sich jetzt über meinen Wagen ihre mit Blüten-Girlanden umwundnen Arme reichen und die auf jedem Arm eine neugeborne Welt voll singender, voll honigtrunkner Kinder tragen und sie bebend auf- und niederwiegen. - - Ja, in zwei Stunden springen am Frühling alle Tore seines griechischen Tempels vor mir auf - und seine Mauern fallen um - und ich schaue hell zwischen seine Waldung von Säulen hinein, aus denen überall Blütengehänge und Laubwerk bricht - und dränge die Augen durch das Gewimmel von Sonnenaltären und Altarlichtern und Rauchwolken und Chören hindurch - und dann lass' ich sie ruhen an den aufstrebenden Alpenpfeilern, die das blaue Tempelgewölbe tragen, bis sie sich erheben und sich oben am Portal des hereinbrennenden Glanzes gesättigt und geblendet schließen. - -

Aber heute nicht! - Heute ist der Spiegel meiner Seele mit einem Dunste angelaufen, den ja wohl die Blicke auf ein Schlachtfeld im Auge wie in der Seele zurücklassen durften. Sondern morgen, wenn der Schlaf diesen Dunst weggewischt hat, wird die grünende Natur ihren zitternden Widerschein in meiner hellern Seele beschauen, und wenn sie ihr Lächeln und ihre Glieder vor mir regt, so wird sich mein Herz bewegen, und es wird allemal zittern und lächeln wie sie. - - Nein, heute will ich nichts sehen! Ach! mein Herz schwillt auch ohne das von Minute zu Minute mehr von den Bienenstichen auf, die ihm der Gedanke gibt, weswegen und wohin ich komme - welche Geschichte ich hier im singenden Lustlager des Frühlings niederschreiben muß - und welche himmlische unvergängliche Gestalten das wunde Auge meiner Phantasie unter dem Abzeichnen anzublicken hat, vor denen es sich wohl hundertmal voll und dunkel wird abkehren müssen, ohne die Züge gesehen zu haben, die ich malen will. - - O! wie könnt' ich heute abends fröhlich sein und den Frühling ansehen? -

Abends um 5½ Uhr. Das Schicksal zieht unser dünnes Gewebe als einen einzigen Faden in seines und kettet unsre kleinen Herzen und unsre nassen Augen als bloße Farbenpunkte in die großen Figuren des Vorhangs, der nicht vor uns herniederhängt, sondern der aus uns gemacht ist. Jetzt spielt es neben mir und mit mir und will es, daß ich weiß, es spiele. Warum soll es ihm wichtiger sein, die Facetten eines Käferauges zu schleifen und die Flughaut eines Schmetterlings zu befiedern, als den Gedanken eines Menschen zu wenden und zu kolorieren? - Schmelzende Körper zerfließen, wenn man sie erschüttert - - und mich erschüttert die unbekannte Hand in dieser weichen Stunde mit zwei widersprechenden Tönen, gleichsam mit dem Zusammenläuten der Sturm- und Harmonikaglocken auf einmal.

Ich höre nämlich eine Singstimme und eine Sterbeglocke....

Jetzt schwankt mein Wagen, sich zurücklehnend und wiegend, zwischen den Koloraturen der Abendstimmen den Berg hinauf, wo ich wohnen will - der Tag stirbt sanft im Blütennebel an seinem Schwanengesang - die Alleen und die Gärten reden wie gerührte Menschen nur leise, und um die Blätter fliegen die Lüftchen und um die Blüten die Bienen mit zärtlichem Gelispel - nur die Lerchen steigen wie der Mensch schmetternd in die Höhe, um dann wie er schweigend in die Furche zurückzufallen, anstatt daß die große Seele und das Meer sich ungehört und ungesehn in den Himmel erheben und rauschend und erhaben und befruchtend, in Wasserfällen und Gewittergüssen, in die Täler niederstürzen. - -

Ein unaussprechlich-süßer Ton steigt aus einer weiblichen Brust wie eine zitternde Lerche auf, in einem Landhause am Abhange der Bergstraße. Sie tönt, als wenn der Frühling singend aus dem Himmel flöge und in einem entzückten Tone aushaltend mit aufgeschlagnen Flügeln so lange über der Erde hinge, bis Blumen zu seinem wallenden Lager unter ihm aufgesproßt wären. - - Aber deine Zunge, grausame Tonkunst, zieht sich, wie die Löwenzunge, so lange kitzelnd und wärmend auf dem nackten Herzen hin und her, bis alle seine Adern bluten.

Und hart greift in diese Singstimme das Geläute ein, das aus einem Kloster hinter Neuengleichen dringt. Es ist das sogenannte Zügenglöckchen, das die Mönche immer ziehen, wenn ein Mensch im Sterben ist, damit eine sympathetische Seele für den Liegenden bete, um den der letzte Engel eine Nacht gezogen, um ihm darin das Herz abzulösen, wie man uns beim Ablösen der Glieder die Augen zubindet. - Wenns auf mich ankäme, scheidender Unbekannter, ich würde die Totenglocke halten und sprachlos machen, damit jetzt in deinen verfinsterten Totenkampfplatz kein Nachhall der entfallnen Erde hineintönte, der dir (weil das Ohr alle Sinne überlebt) so grausam die Minute ansagt, wo du für uns verloren bist, wie sich aufsteigende Luftschiffer durch einen Kanonenschuß den Augenblick melden lassen, wo sie vor den Zuschauern verschwinden. - - Aber ich tät' es heute auch um meinetwillen, weil die zwei Töne wie die Parzenschere auseinandergehn und dann zusammenfallen und dann tief im wunden Herzen aufeinanderschneiden....

Ach, führet keinen Menschen, dessen Wunden nicht alle recht fest verbunden sind, in den Tempel des Frühlings! Die süßen Wallungen drücken sonst das Blut durch seinen Verband. - Aber wie Ärzte die Verbluteten in eine horizontale Lage bringen lassen: so legt ja der Schlaf (oder der Tod) jeden Verbluteten in die waagrechte Lage, die alles stillt....

- Ich komme jetzt an - aber ich trage mit geschloßnen Augen eine Brust, die jetzt zu sehr zittert und schlägt, bloß unter den warmen dunkeln Flügel des Schlafs - - - und kniee erst morgen vor dem Frühling nieder....

Nachts um 12 Uhr. Ach! ich konnt' es nicht - ich hab' alles gesehen, und nicht längst ist die nachglühende und überwölkte Seele gleich der Nacht wieder heiter und kühl. Was ich jetzt male, ist das Bild eines kränklichen fieberhaften Herzens; aber der Gesunde höre vergebend die schmerzlichen Fieberträume seines liegenden dürstenden Freundes an und sage sich immer: »Der Kranke wird sich auch wieder aufrichten, und du wirst dich auch niederlegen, und dann wird er ebenso nachsichtig an deinem Bette stehen.« -

Als der Wagen oben auf der breiten abgerundeten Platteforme des Berges, die lauter blühende konzentrische Zirkel von Lusthecken und Lusthainen bedeckten, stille stand und seine Türe wie eine Jubelpforte des Frühlings aufging: so glitt mein Auge unwillkürlich auf etwas nahes Glänzendes hinaus: es war ein um den Berg laufender Zauberkreis von Buschwerk aus der weißen Nessel (urtica nivea), deren Blätter mit ihrer schwarz angelaufnen obern Seite und einer blendend-weiß geschminkten untern einen blutroten Blattstiel und drei rote Adern prächtig grundieren. Der Wind wühlte dieses Blut und diesen Schnee und diesen Ruß untereinander und griff den schwermütigen Dreiklang auf diesem bewegten Farbenklavier. Und als ich in dieses blutige Ineinanderflattern sah, zog der erste gelbe Schmetterling dieses Jahrs darüber hinweg und den Berg hinab; und herauf flogen unbehülflich drei Pfauen mit ihren niederhängenden Farben-Schleppen und schauten, einsinkend, sich auf der Lusthecke um nach den nächsten Ästen des Kastanien-Zirkus, um darauf zu übernachten. - -

Nun übermannte der Frühling meine Seele, und ich vergaß alles und stürzte mich hinein ins Meer der Natur. -

Ach! ich wurde nicht glücklich....

Der große Frühling hing über der Welt wie ein breites, mit Licht und Glut und Naß gefülltes Gewitter und goß seine leuchtenden Lebenstropfen in einer unübersehlichen Katarakte nieder - und aus allen Pulsadern und Saftröhren sprang der Gewitterguß wieder in Fontänen auf - und aus dem schwellenden ausgebreiteten Lebensstrome ragten die Menschen nur wie Wasserpflanzen hervor und die Erden wie Klippen - und unter dem schöpferischen Brausen gingen die kleinen Stimmen der erquickten Lebendigen nur wie Gewitterstürmer und Glockengeläute umher....

Aber über das wie eine Konchylie geschloßne liegende Herz zog das große Meer vergeblich: nur der aufgerichtete Schiffer, nicht der hinabgezogne Täucher kann den Ozean fassen. In solchen Stunden ist der Mensch nur für Menschen, nicht für Götter gemacht, und die von einem zu schweren Tropfen gebückte Sonnenblume kann der Sonne nicht mehr folgen.

Ich schämte mich der Erweichung, als ich vor der blühenden Natur stand, die vor dem brennenden Abend wie vor einem roten sphärischen Spiegel purpurrot anlief - als die Berge aufstanden und die blaue Waldung und den Frühling mit ewigem Schnee durchschnitten, wie hohe weiße Hagelwolken das Himmelsblau - als die Sonne schon auf dem weißen Gebürge lag, in das Goldgefäß der letzten Wolken als ein vergangnes Herz der Himmelskönigin gelegt, wie oben auf Trajans Säule die Asche seiner Hülle in einer goldnen Urne steht. - - Aber alle Zweige der zu weichen Sensitive in mir fielen unter der Berührung der schöpferischen Hand zuckend zurück und konnten nichts ertragen als eine zweite Sensitive; in der erhabnen Einsamkeit sagt dann der verlaßne Mensch: »Allgütiger, erscheine mir heute nicht so groß, erscheine mir lieber in einem geliebten Bruderangesicht, an diesem will ich mich verhüllen und es unaussprechlich lieben.«

Mich drückte eine Stockung der Empfindung, ein banges Zwielicht zwischen heller Freude und dunkler Trauer, wogegen es nur zwei Mittel gibt: entweder jene oder diese zu verdoppeln. - - Ach! das letztere war leichter... Wenn dumpfe namenlose Schmerzen sich ans Herz anlegen: so gib ihnen größere Stacheln, damit sie es tiefer ritzen; und das wegfließende Blut macht den Busen leichter, so wie ein kleiner Riß einer Glocke einen dumpfen Klang nachläßt, bis ihr ein weiter den hellen wieder schafft.

Ich ging zu meinem Wagen und opferte den Wein, der den Musen zugehörte, dem Genius der Trauer. Und als ich trank vor der hinabglühenden Sonne - und als es um die Brandstätte der niedergebrannten Sonne weit umher rauchte wie Blut - als die Rauchsäulen des Dorfs unter mir den Goldrand des Abends, der an der grauen Masse glimmte, ablegten und sie wie aufgerichtete Regenwolken emporstanden - als auf den Wassern eine düstre Leichendecke über die hüpfenden Brennpunkte und schillernden Farbenpulver gebreitet war - und als alle Schlösser und Wälder und Berge solche vom Abendglanze in die Luft gezogne Gebilde waren, wie sie die Feuerwerke der Menschen schaffen: so stellte meine tränentrunkne Phantasie auf die rote Begräbnisstätte der Sonne alle Gestalten und Zeiten, die mich je betrübt oder verlassen hatten - ich hob alle mürbe Leichenschleier auf, die in Särgen lagen - ich entfernte den erhabnen Trost der Ergebung, bloß um mir immerfort zu sagen: »Ach! so war es ja sonst nicht - tausend Freuden sind auf ewig nachgeworfen in Grüfte, und du stehst allein hier und überrechnest sie.«...

Jetzt war es leichter, traurig zu werden; aber ich wollte die ganze dünne Brücke, die die Vergessenheit über den Höllen- oder Fegfeuerfluß des Kummers schlägt, abbrechen. - Und da ich mir ferner vormalte, wie viel mir jeder Frühling genommen und wie wenig dieser gebe - wie langsam unsre Weisheit, wie langsamer unsre Tugend zunehme und wie so schnell unser Alter und die Scheiterhaufen unserer Freuden und Freunde - und da ich daran dachte, daß im Tode nur wenige Schuhe Erde, aber im Leben die ganze Erde mit der Schwere ihrer Foderungen über unsre schwache Brust gewälzt sei, wie über jenen Riesen der Ätna: so fragte mich unaufhörlich etwas in mir: »Bist du denn noch nicht traurig genug? Siehe! wie bist du allein! wie siehest du mit so nassen Augen in den aufblühenden Frühling! Und bist du nicht tausendmal so mit dieser zusammengedrückten schmachtenden Brust vor der unermeßlichen Fülle des Himmels gestanden? O, wie bist du arm und allein! - Kannst du deine Hand ausstrecken in den Nachthimmel und die zu dir herunterziehen, die hinübergeflogen sind? Kannst du die vergessen, die dich vergessen haben? - Dürftiger! Dürftiger! schlage nicht das ganze zerrißne Buch der Vergangenheit auf - zähl es nicht wieder, wie manches Glück, wie manches Jahr, wie mancher Freund darin durchstrichen ist. - - Bist du noch nicht traurig genug?«

Ich konnte nicht Nein sagen; und als ich dachte: »das ist der erste Mai«, so war es genug....

Aber nach einer erschöpften verdunkelten Stunde sah ich gen Himmel, und der Mond schwamm in seiner blauen Mitte - ein Nachtwind wühlte sich durch den ganzen betauten Frühling und warf einen Wasserstrahl von der Kaskade, an der ich lag, erquickend in mein brennendes Angesicht. - Und als noch dazu drei Windmühlen anfingen durch die Nacht zu schlagen und als unten im Grün des tiefen Dorfes aus dem Hause eines Töpfers eine gebogne Flamme sich zwischen den grünen Gipfeln auseinanderrollte und aufbäumte: da war mir, als höbe das Wehen den beladnen Busen vom Herzen ab und in der aufgedeckten abgekühlten Brusthöhle wieg' es sich jetzt ohne Last und stet und in einem kühlern Dunstkreis als in der Seufzer ihrem. - - Es war mir, als wenn die gegen Morgen rückende Abendröte heller blühte, weil ein Engel in sie geflogen sei, der meiner Seele vorher zugelispelt habe: das Buch eurer Vergangenheit, Menschen, ist nur ein Traumbuch, das das Widerspiel der Zukunft bedeutet. - Der Abendschmetterling der Zeit, der in der Dämmerung und nahe auf den Gräbern mit Totenköpfen auf den Flügeln und mit ängstlichen Lauten im Saugerüssel mich umkreiset hatte, war, je weiter er gen Himmel stieg, unterweges eine unsterbliche Psyche mit glänzenden Schwingen geworden.

Ich stand auf und ging sanft überweht in den dämmernden Lustgängen - und die Maikäfer rauschten um mich, und der Nachtschmetterling deckte seine offnen Flügel auf die Schlehenblüte, und die flüssige Schnecke wallte unzerritzt die Dornen hinauf. - Denn die Nächte des Frühlings gehen über die Erde nicht einsam wie die unfruchtbaren Wintertage, sondern wie glückliche Mütter, und tausend spielende Kinder hüpfen ihnen leise nach. - Aber ich war ein Kind, das nicht längst geweint hatte. - Und als ich das alles gedacht hatte: sah ich, gleichsam um Verzeihung flehend, auf die Erde, und der dunkle blutige Gürtel von der schneeweißen Nessel1) faßte mich und seine Gärten mit einem blühend-weißen Zauberkreis und Mondhof ein. -

Ich schauete zum hellen, in Abendröte gefaßten Nachtblau hinan, und mein Blick fiel auf die Goldzinne eines unter dem Monde schillernden Gewitterableiters. -

Ich blickte endlich auf zum Sternenfeld, und die ewig-blühenden Lilienbeete zitterten droben und schläferten mit sanften Betäubungen unsre brausende Seele ein, wie Kinder durch Lilien im Schlafzimmer einschlummern....

Nun lag ich ganz in den Armen des Frühlings und spielte mit den großen Blumen seiner Brust. - - O! du Allgütiger, ich bin ja noch in seinen Armen - und in deinen!

Zweite biographische Belustigung

Die Jungfer Europa - Baurede

Es gibt in keiner Geschichte zwei so wichtige oder sonderbare Echo als in meiner......

Denn beiläufig! ich hebe die Geschichte schon an. Ich würde freilich jetzt dem Leser die waldkappelischen Anlagen und die heilige Jungfrau Europa und selber meinen Wärter recht vergnügt und gut geschildert haben, wenn er nicht so hungrig nach dem Mannabrot der Geschichte aufsähe, das im heutigen Kapitel fallen muß, weil im ersten Sabbatskapitel keines kam; ja ich wäre noch dazu schon diesen Vormittag - eh' noch mein Aufwärter mit seiner Egge um seinen Hafer herum wäre - damit fertig geworden mit der Baute des Vorhofs zu meinem historischen Bildersaal, wenn sich, wie gesagt, der Leser mäßigen könnte; aber man macht ein corpus mysticum wie ihn zu leicht wild. Allerdings treibt und sticht der kleinste Kornak von Autor den breiten Elefanten von Publikum, wie er will; hat er aber dem Elefanten einmal einen historischen Branntwein versprochen, nämlich eine Historie: so wird der Kornak ertreten, wenn er nicht einschenkt und erzählt wie folgt: - -

Nur die zwei Echo, die ich in die erste Zeile setzte, nehm' ich wieder zurück, da sie in der Partitur dieser Geschichte noch einige Bogen und Takte pausieren. - -

- Auch nehm' ich den ganzen Anfang der Belustigung wieder zurück, da ich erst recht nachgesonnen und bedacht habe, daß der Leser weit mehr auf den Sommerkasten und auf die darein gepflanzte europäische Jungfer erpicht sein muß - weil ich schon so viel Redens davon machte - als auf die ganze plombierte Geschichte. Ich will ihm nichts Unschuldiges abschlagen. Haben wir aber einmal die zweite Belustigung glücklich hinter uns gelassen: so ist die größte Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß ich - und also er mit mir - schon in der dritten auf den Anfang der Historie treffen werden; - ich wenigstens werde auf viele Stunden lang kein Drehkreuz, keinen Holzweg oder spanischen Reiter ansichtig, der mich seitwärts treiben könnte.

Man köpfe eine Alpe und baue sie voll: so hat man Waldkappel, dem der Berggipfel wie einer Weide weggestutzt ist. Hier am Orte, wo ich darüber schreibe - er wird bald mit Namen vorkommen -, bin ich nicht ernsthaft genug, um dem Leser eine würdige Ansicht dieser Aussicht mitzuteilen, um es, mein' ich, ausführlicher zu beschreiben, wie sich der weite Zirkus der Schöpfung mit den an den Stadtmauern der Ebne hinaufgezognen Spalierwänden, nämlich mit den an die Berge gesteckten Wäldern, um diesen waldkappelischen Fenstertritt der Erde lagert - wie sich um das von einem unermeßlichen Zuggarn gefaßte Herz schön verstrickt tausend Ketten und Seile der Liebe legen, die Blumenketten aufgesproßter Auen, die Perlenschnüre perlender Bäche, die Frucht- oder vielmehr Blütenschnüre der Obstalleen, die schlaff zwischen den zusammengeknüpften Dörfern schwanken, und die eiserne Bergkette, an der wie an einer Jupiters-Kette alle weichere Bänder niederhängen. -

Ich könnte noch stundenlang beschreiben; aber ich bezwinge mich lieber.

Dieser Berg ist nun der niedlich-gearbeitete Präsentier-Teller von Diminutiv-Häuserchen für meinen Großvater und seinen Troß - er trägt im Grunde eine runde Fuggerei auseinandergesäeter kouleurter Zimmer, die ohne Dach und Fach im Freien stehen und zwischen denen die Lusthecken als Korridore laufen - es sind Putz- und Glasschränke für aufgespielte Hof-Papillons, unter Laubwerk gestellt - Bilderblinden für einen Mann, der anbetet, oder für eine Frau, die er meint - gesprenkelte, an Zweige geklebte Schnecken- und Kartenhäuser. - -

Ich kenne nichts Niedlichers, und ich schlafe selber in einem - in einem andern aber frühstück' ich, in Nro. 10 - in Nro. 5 dinier' ich - und in Nr. 3 könnt' ich mich pudern, wenn ich wollte. -

Eine ganze Zelt-Gasse solcher Laubhütten füllet jetzt - denn niemand hat die Aufsicht darüber als der Aufseher - dieser selber als Schloßkastellan und Nachtwächter mit seinem schmutzigen Hausgeräte an. Hat er nicht sogar sein Heu in den rechten Fuß der Jungfer Europa und sein Grummet in ihre linke Panse eingefahren? Ich mag nur dem Kastellan den Text nicht lesen, da mir seine Frau und Kinder, solang' ich hiesiger Bergbewohner bin, aufwarten und zugleich meine Silberdiener - Läufer - Beiköche - Hofkellerschreiber - Bettmeister und Zimmerfrotteurs sind; aber eine Baurede als Hofprediger oder als Zimmermeister möcht' ich vom Giebel eines neuen Schlosses an den gekrönten Bauherrn halten, des Inhalts: ob er denn dächte, daß er mit dem wenigen Brot, das er den Arbeitern gebe, die Fehler seiner Baurisse so leicht auswischen könne, als man mit Brotrinden Pastellgemälde korrigiert - ob er nicht seine fürstlichen Storchsnester, die den Dachstuhl des Staats eindrücken, offenbar in waagrechte, dem Ackerbau abgehobne Pflugräder mache - ob er nicht wie Timur in gewissem Sinne seine Gebäude aus Menschenknochen und Schädeln aufführe etc. -

Auf der andern Seite kann einer, der billig und witzig sein will und der unten steht, dem Zimmermeister wieder so viel hinaufantworten:

»Im Staate müssen Paläste früher als Hütten und überhaupt wie in jedem Bienenstocke die obern Zellen zuerst gezimmert werden, wie am Leibe der Kopf sich früher ausbaue als der Rumpf. Auch baue man, wie Friedrich II., der ganze Dörfer schuf, von Zeit zu Zeit einige morsche Bauernhütten auf - in den englischen Gärten, um zu zeigen, wie wenig man sich ihrer schäme; und am Ende reichten schon die artistischen Dorfschaften, die man zu Ofenaufsätzen oder zu englischen Partien brauche, überhaupt statt aller wirklichen hin, und man könnte die wahren auf dem Lande leicht wie auf den homannischen Karten durch eine Nulle andeuten, da ohnehin die Felder den englischen Gärten das beste und meiste Erdreich entzögen. Mit dem Prunke der Paläste - der aber so geschont werden sollte, daß man für solche Häuser ordentliche Überhäuser, wie für das Loretto-Häuschen, nach Art der englischen tragbaren Hospitäler aus Eisen, besorgen sollte, wie man ja auch die Stühle darin immer in papierne Überhosen stecke - mit diesem Prunke sei ein Fürst oft deswegen so verschwenderisch, damit der Kastellan und sein kleines Schloßgesinde, die es immer nach einigen Jahren beziehen, desto mehr Gelaß und Freude haben. So ungeheuer groß und mit so vielen Gemächern, als Silberschlag die erste Arche für alle, sogar unentdeckte Tiere machte, lege man eine fürstliche darum an, damit sie wie fürstliche Kommoden leer bleiben könne, welches im einfachen Geschmacke andrer Tempel, der ersten griechischen und ägyptischen, sei, in denen nicht einmal ein Schattenriß eines Gottes stand. Auch könnten die Großen, die der Wurmstock von Grillen, Langweile und Ekel annage, dem Labyrinthe ihres Innern nur in ein äußeres voll Zimmer entwischen, und ein Generalfeldmarschall brauche daher oft so viel Platz wie seine Armee; so mache, wie die Verwalter wohl wissen, eine Metze Korn, sobald der Wurm hineingekommen, ein ganzes Achtel voll. Nicht zu gedenken, daß man die Abzugsgräben so vieler moralischer Unreinigkeiten und zugleich der öffentlichen Einkünfte von außen ebensogut zierlich überbauen und verdecken müsse, als man in Gärten bald unter einem Holz-Obeliskus, bald unter einem gefällten Holzstoß, bald unter einer schönen Nische den Abtritt verberge.« - -

Lasset uns zur Jungfer Europa kommen. Sie steht, von konzentrischen blühenden Ringen und Irrgängen umzogen, mitten auf dem Berge und ist so entsetzlich hoch, daß sie eine Potsdamerin etwan als eine goldne Hemdnadel an sich stecken könnte. Wäre die Felsen-Paste der Semiramis, d. h. ihr steinerner Nachstich, zustande gekommen: so weiß ich, der Stich hätte nicht an die Jungfer gereicht. Statt des Rückenmarkes und statt der ganzen Osteologie ist die Riesin, wie alle Blei-Gebilde, mit guten Eisenstangen oder Kanoneneisen-Barren durchstoßen. Diese sind zugleich die Wetterstangen, die eine so hohe Person keinen Nachmittag entraten kann. Da nun aber Eisen und Blei den Fehler haben, daß sie sich zu Rost verkalken, mit dem sich gerade ein Gewitterableiter am wenigsten anfangen darf; und da zweitens der Kopf der Jungfer von Natur nichts ist als ein plumper Wilsonscher Knopf, auf den ein ganzes Gewitter mit einem Schlage niederfahren würde, wenn man nichts dagegen versuchte: so versuchte man - und mit ungemeinem Glück - beiden Übeln mit den Franklinischen Spitzen, denen man mit allen Physikussen den Vorzug ließ, nämlich mit 72 goldnen Zacken in der Länge der Bajonette entgegenzuarbeiten. Es mußte gehen, da Gold, die gewöhnliche Krone der Gewitterstangen, nicht rostet. Es will ein gutes Gesicht dazu gehören, zumal wenn man unten vom Tal heraufsieht, daß man den umgestürzten goldnen Stahlkamm oder Strahlenreif nicht für eine Zackenkrone nehme, oder für eine Dornenkrone. Letzteres wäre noch richtiger, da sie gerade 72 Stachelsporen hat, welches eben die Zahl der Wunden ist, die nach den Katholiken die Dornenkrone ritzte; aber man muß niemals vergessen, daß diese Stechpalmen bloß auswärts stehen und stechen, nicht nach der eignen Kopfhaut selber, was doch immer etwas tut. Da nun noch dazu die alten Gelehrten beweisen, daß die goldnen Strahlenspitzen an den Statuen der Götter das Gevögel hindern sollten, sich oder noch etwas Schlimmers auf deren Kopf zu setzen: so wird das Diadem nie ohne Nutzen für die Jungfer sein.

Man würde meinen Großvater in der Erde kränken, wenn man schlösse, er habe noch keine Karte von Europa aufgemacht, bloß weil er die Fontange dieser Dogaressa in eine Krone umschnitt. Aber beim Himmel! wenn nicht ein regierender Herr an Europa den Kopfputz in eine Stachelkrone verwandeln darf, so seh' ich nicht ein, wer sonst das Recht dazu haben soll, oder wie mit einem größeren die Holländer den Freiheitshut - die Jakobiner die Freiheitsmütze - die Staatsinquisitoren die Dogenmütze - und die Fürsten ihren eignen Fürstenhut in eine Krone umzustülpen Befugnis hatten: das seh' ich niemals ein.

Was die Jungfer anhat und anfasset, diese Insignien sollen auf einen Kronwagen geworfen werden, der schon in einer eignen Kapitel-Remise hält.

Die Jungfer selber hat - wie großen Figuren natürlich ist, wenigstens sein soll, daher man sie mit dem sogenannten Noyau oder Kern aus Heu und Ton aushöhlt - bloß leere Partien, die Füße ausgenommen, die die Scheune meines Aufwärters sind, und den Kopf, in dem ich jetzt selber sitze und arbeite. Bis ich heute morgens mit meinen Papieren innen nur das Herz der Jungfer erstieg, hustete ich mich halb tot; und dann hat man gleichwohl noch einen ganzen gradus ad Parnassum bis zum Kopfe zu klettern. Inzwischen sitzt man einmal da in solchen Gehirnkammern mit seinen eignen: so ist kein Fürst glücklicher als der Insasse, um so mehr, da der Kopf des letztern von der größten Krone unter dem Himmel durch nichts abgesondert wird als die bleierne Hirnschale über ihm. Schieb' ich ihre Augäpfel weg: so hab' ich aus ihren Augenhöhlen die prächtigste Aussicht vor mir, die ich nur zu radieren und in eine Kunsthandlung zu geben brauche. Auch darf ich mich nur ein wenig zu ihrem Nasenloche herauslehnen: so wird mir das ganze Blumenbrett, das mir der Kastellan auf ihre vorliegende Unterlippe heraussetzen mußte, reichlich zuteil.

Allerdings ist wohl noch aus keinem weiblichen Kopf - diesen ausgenommen - ein so tolles und brauchbares Buch gegangen als meines: ich kann mich ohne Unbescheidenheit als den in der europäischen Zirbeldrüse seßhaften Spiritus rector und Archaeus und geistigen Beherrscher Europens betrachten. Der modische Kolossus, der nach den Zeugnissen der Alten mit einer Laterne die Schiffe heimleuchtete, könnte dem Himmel danken, wenn er meiner europäischen Kolosserin, die seit heute eine lange Mietfackel in die Welt hält und solche damit überleuchtet - ich als Lichtgießer stehe für meine Arbeit -, er könnte froh sein, sag' ich, wenn er der Riesin sich als Sponsus antragen dürfte.... - Morgen begeben wir uns denn wirklich in die Historie unter vorteilhaftern Zufälligkeiten, als den meisten Schreibern zugute kommen. Das Wetterglas steht nicht viele Zolle tiefer als ich Schuhe. Der Osten hält den Blasbalg an meine Kohlen und Flammen und gibt mir den Morgenwind, der der Seele orientalische Perlen zuführt, wie der Abendwind nur okzidentalische. Schon Doktor Friedrich Hoffmann hats erwiesen, daß der Ostwind den Verstand, den Appetit und die Sinnen schärfe. - Auf den Anschlagszetteln der Wiener Feuerwerke steht: »wenn die Witterung es zuläßt«; - und wahrhaftig, die belletristischen brauchen diese Bedingung noch eher. Ohne Ostwind kann ein Gelehrter - gesetzt auch, er sei kein Theolog von Profession - selber nur wenigen machen. Tissot bemerkte schon, daß der Südwind uns Gelehrte wie ein Samielwind ordentlich umwehe; und sooft dieser schwindsüchtige laue Wind vom Äquator herunter mich anhustet: so hust' ich nach und will umfallen.

So aber - wenn die Flut des Windes sich wie die des Weltmeers von Morgen gegen Abend treibt - hebt man die Flügeldecken und die Flügel gewaltig auf und sumset über die Wolken hinaus und beginnt nichts Geringeres als die....

Dritte biographische Belustigung

Anfang der Historie - die magnetische Hand - das mütterliche Gespräch - das Echo bei Genetay

Der Graf Lismore aus Schottland, dessen Landgut dicht bei Rosneath liegt, hatte sich unter einem französischen Namen nach Frankreich und als eine Luftwelle mehr unter die Stürme geworfen, die im Frühlings-Äquinoktium des gallischen Freistaats wehten, anstatt daß sie sonst das Herbst-Äquinoktium andrer Republiken begleiten. Als das Schicksal in Gestalt der Sphinx vor dieses Reich trat und ihm das Rätsel aufgab, wie ein Land aus einem vierfüßigen Tiere ein zweifüßiges werde, aus einem gebückten ein freies - - ferner als diese fürchterliche Sphinx wie die ägyptische jede irrige Auflösung mit Verschlingen bestrafte: so gab sich der junge Lismore gern für einen Gallier aus, um mit unter denen zu sein, die entweder errieten oder erlagen. Noch jetzt ruht die grimmige Sphinx mitten im Lande und graset zugleich Arznei- und Giftpflanzen ab; aber im Jahre 93, diesem Stufenjahre der Freiheit, war sie noch hungriger: was konnte nun in jener blutigen Zeit - da der Statthalter des bösen Gottes, Robespierre, den Tempel der Freiheits-Göttin mit Gräbern unterminierte und da seine und fremde Mineurs sich unter der Erde in Katakomben feindlich begegneten - was konnte da ein edler, vom Laster und Schicksal zugleich Freigelaßner anders tun in der trüben Wahl zwischen Morden und Sterben, als sein Angesicht bedecken, sein tätiges Herz bezähmen und so resignierend und verhüllt es auf dem zitternden Boden abwarten, ob das Erdbeben glückselige Inseln versenke oder erhebe?

Lismore wollte daher seine mißliche und unfruchtbare Rolle und Frankreich verlassen. Sein Landweg von Paris aus war zum Glück der gekrümmte der Seine und führte ihn, wie diesen Strom, dem Meere erst durch einen Umweg zu, nämlich durch Rouen.

Eh' er in Schottland ankam, hielt ihn in Rouen etwas auf - eine Mutter und eine Tochter, die mit verzognen Namen in einem armseligen Hause, das Diogenes nicht ausgeschlagen hätte, sich verbargen und sich grämten. Lismore hatte die Mutter - ich nenne sie Gräfin von Mladotta, ob das gleich nur der Name ihres Namens ist - schon in Paris gesprochen und sie ihrer Sicherheit wegen daraus vertrieben, zwei Tage vorher, eh' ihren Gemahl die Menschen-Sägemühle der Guillotine ergriff. Sie war eine durch Philosophie, Welt und Tugend veredelte Frau, die nicht wie ein Kind über jedes harte Anfassen des Schicksals schrie und die es aus einem langen Leben wußte, daß uns, eh' wir es endigen und ehe der Tod uns zum zweitenmal säet, alle Flügel abgerissen werden müssen, wie dem Tannensamen, eh' er in die Erde kömmt. Ihre zwei Flügel waren ihr Gemahl und ihre Tochter. Sie hatte also wenig mehr, was sie über der letzten Grube noch schwebend erhielt. Das Ertragen des Kummers ermüdet oft den Körper so sehr wie das Erliegen darunter: die standhafte Gräfin reichte geduldig dem Schmerze ihr Haupt, das der Schlagfluß traf.

Als Lismore sie wiederfand: war ihr vom Schlage nichts geblieben als ein merkliches Zittern des Armes und die Gewißheit seiner Wiederkehr. Er zwang ihr - um es gleichsam gutzumachen, daß er unter der Fahne einer Partei gedient, die ihr soviel geraubt - das Versprechen ab, jetzt mit ihm nach Schottland zu fliehen, um da, wenn nicht glücklich, doch sicher zu sein.

Aber der Gram, der nur in ihrem Herzen ruhte, war noch im Auge ihrer Tochter Adeline, die ihren geraubten Vater nicht vergessen konnte. Sie sah oft lange ihre Mutter an, und wenn sie dachte, sie weine vor Freude und Liebe, war es bloß aus Schmerz und Anteil. Ihre Trauer über den entrückten Vater machte ihre Liebe gegen die zurückgelaßne Mutter heißer; - und umgekehrt diese jene; und zuweilen hielt sie eine für die andre. Mit weniger Erziehung oder Tugend wäre Adeline zu sehr verschlossen, d. h. versteckt geworden; aber beide hatten ihren schönen Gefühlen bloß die fehlerhaften Schleier genommen, nämlich die undurchsichtigen. In der Freude, im Gutestun sah sie einem Kinde ähnlich, das im Schlafe lächelt, weil es Engel erblickt. War auf des Grafen unglückliche riesenhafte Brust der Erdball wie ein Ätna gewälzt, daß sie nur unter fremden Erschütterungen und Verwüstungen sich recht zum Atmen aufhob: so trug Adelinens Busen das Leben geduldig wie ein Leichenstein, oder so wie eine erblaßte Mutter den an sie gelegten bleichen Säugling trägt, gleichsam als schliefen beide aneinander außer dem Grabe: die einsinkende Brust geht sanft unter der stillen morschen Bürde auseinander.

So war sonst ihr Schmerz; aber der jetzige nicht: er war wohl nicht wild, doch romantisch: denn ihr Geschlecht hat die schweigende Geduld nur für die Schläge, die auf dasselbe im gewöhnlichen Kreise seines bürgerlichen Lebens fallen; aber der Verlust dieses Kreises und die Schreckbilder außerhalb desselben martern es zu sehr, wie hier Adels-Verlust und Hinrichtung.

Dieses Übermaß eines hyperbolischen Kummers gab, zumal im Lärme einer Revolution, wo das Schwanken der bürgerlichen Scheidewände alle Gefühle mehr entblößt, ihrem so weiblichen Herzen einen männlichen Enthusiasmus, ihrer Zunge Beredsamkeit und ihrem kalten Auge Feuer, obwohl unter Tränen. - Und deswegen brach der Graf einen Vorsatz, den er so lange gehalten: nicht mehr zu lieben.

Bei ihm war ein solcher Vorsatz unvermeidlich: er suchte ein Mädchen, das auch noch etwas anders wäre - ein Jüngling. Wir wissen vom Grafen noch zu wenig; ich muß wenigstens ein Brustbild von ihm aus der römischen Erde der Vergangenheit graben und hieher stellen:

Er hatte eine unzufriedne Seele, die in der vollen Blüte aller ihrer Kräfte stand, deren jede fast bei ihm eine eigne Seele war: so sehr gebot eine um die andre herrisch über ihn, gleichsam örterungsweise. Daher brach die üppige, berstende Knospe seines Geistes, wie die einer überfüllten Nelke, ohne Ebenmaß der Reize auf. Bei dieser Kraft war ihm die genießende Untätigkeit des vornehmen Lebens - jener ekelhafte Wechsel zwischen geistigem und leiblichem Schlummer - ein Greuel. Ihm mangelte kein anderes Haus als ein Arbeitshaus und kein Konfekt-, sondern ein Arbeitstisch und einiger Hunger und Schweiß: eine arbeitsam Dürftigkeit hätte seinem treibenden Lebensbaum die Wasserschößlinge verwehrt und eben dadurch seinen ganzen Wuchs geregelt. Hatt' er weniger Zerstreuung - mehr Zeit - mehr Geduld - oder eine herrschende Kraft: so stand ihm für alles gewitterhafte Feuer ein herrlicher Ableiter bereit - die Schreibfeder: - wahrhaftig, das Feuer des Genies, das Länder entzündete, schlägt hundertmal nur ins Dintenfaß, und dann ist die Wolke erschöpft.

Daher behaupt' ich, verschwendet ein Shakespeare und Garrick die Kräfte, womit er einem großen Mann hätte nachkommen können, in der Schilderung desselben. Man nehme manchem Genie die Feder: so wird es den Freiheitsdegen, und manchem General diesen: so muß er jene ergreifen.1) Daher wird man in aufgeklärten Reichskreisen, wo man sich noch etwas aus echtem Freiheitsgeiste macht, diesen nie in Schriften dulden, sondern ihn wie Brunnengeist hermetisch in den Autoren verpetschieren, damit er nicht verrauche; sie sollen weniger frei schreiben, damit sie (hofft man) mehr frei handeln. Daher schadets einem Autor an der Moralität, wenn er zu tugendhaft schreibt; wenigstens suchten allezeit Skribenten, die ein reines Leben führen wollten, wie Martial, Katull, Sanchez2), die unreinsten Werke zu fertigen, um mit ihnen, wie mit gut angebrachten Ventilatoren oder Schiffspumpen oder Abzugsgräben, den Sündenstoff aus ihren Seelen abzuführen.

Was ohnehin die Moral anlangt: so kann man fodern, daß angesehene Adjunkten der philosophischen Fakultät auf ihren Kathedern, und unangesehene Adjunkten der theologischen auf ihren Kanzeln, da sie keine frères servants, sondern schon Gebrüder-Redner der Tugend sind, daß sie, sag' ich, als Kunstrichter der Tugend die höchsten Gesetze aufstellen, um deren Befolgung sich niemand als die Schöpfer guter Werke zu bekümmern haben: beide Adjunkten sind ihre eigne kantische Gesetzgeber und haben also in sich die gesetzgebende Gewalt vollkommen; von dieser aber kann in Menschen wie in Staaten die ausübende nicht genug gesondert werden.

Der Graf streckte, wie alle idealische Leute seiner Art, mit gleicher Heftigkeit seine Hände nach der Wahrheit - nach der Tugend - und nach einem weiblichen Herzen aus und zog sie immer voll Schaum zurück. Dieser gute Leolin Lismore mutete einem Weibe alle Tugenden zu, auch seine, ja sogar die, die ihm mangelten. Wenigstens mußt' er, wenn er sich auch im Handel noch einige Vollkommenheiten abbrechen ließ, doch durchaus auf zwei - oder es war sonst Läsion über die Hälfte - dringen: 1) auf ein Herz, wie ein Engel trägt, zart, unschuldig und milde - 2) auf einen Kopf, wie er führt, voll beredten aufbrennenden genialischen Enthusiasmus für alles Edle und Große. Seine Täuschung fing allezeit beim ersten Artikel an, und dann war sie beim zweiten natürlich.

Einem Lismore verübl' ich solche Foderungen nicht; aber was soll man sagen oder schreiben, wenn Libertins, die in ihrem ganzen Leben nichts taten, als gute Engel zum Abfall verlocken, am Ende als Gratial ihrer wohlverlebten Jugend weiter nichts begehren als einen Seraphim, wenn der vierzigjährige Schöpfer schuldiger Mütter und unglücklicher Kinder bloß die Unschuldigste, wenn der Treuloseste bloß die Treueste als einen geringen Preis seines redlichen Wandels fodert, weil er nicht gern mehr am Trauungsaltar verlangen will, als etwan der rechtschaffenste Jüngling im Lande fodern kann? - Noch besser war, es, ein solcher Plus-Lizitans hauste in Paris: er könnte dann in die rue St. Martin ins bureau de confiance Nro. 225 gehen und dieser Heirats-Börse, die in allen Provinzen die besten Unter-bureaux hält, folgende Affiche zu publizieren geben:

»Endesunterschriebener sucht eine Frau, bei der er alle die Tugenden haben kann, die ihm ausgegangen sind - die so lange in diesem Leben ein Engel ist, bis sie im andern einer wird - die alles erträgt, sogar einen Mann oder seine H. - die nichts vor ihm verbirgt als ihre Tränen und seine Kinder. - Dafür bringt ihr Sponsus seines Orts wieder (er macht sich dazu anheischig) ein adliges Alter von 6000 Jahren und ein hübsches Warenlager von Sklaven, womit er in zwei Welten handelt, und die Hörner zu, die sonst erst nach der Hochzeit angeschafft werden müssen; wobei er aber fodern muß, daß die Person, mit der er sich in solche Heiratsunterhandlungen einlassen soll, entweder die heilige Jungfrau Maria selber, oder deren Base, Stieftochter oder Enkelin sei, weil niemand mehr an seiner Ehre gelegen ist als dem

Beelzebub.«

Ach! es war eine glückliche Zeit für den edlern Lismore, da zwei Tropfen, die aus zwei schönen jungen Augen fielen, noch sein mit ungelöschtem Kalk befruchtetes Schiff in Brand setzten - da er zu einer seligen, aber kurzen Idylle nichts vonnöten hatte als eine schöne Landschaft und eine schöne Schäferin, die zugleich das schöne Schaf darin war - und da er noch nicht sagte, eine Frau sei nichts als eine geborne - Kastratin.

Er nahm es erst in Rouen zurück; aber bis ers tat, wie viele geistige Getränke für das Herz mußt' er nicht auf verunglückende Weinproben setzen! -Wie viele versüßte Kapweine mußt' er nicht mit seinem liquor probatorius oder der sogenannten sympathetischen Dinte untersuchen, bis er den schwarzen Niederschlag im Spitzglase vor Augen sah! - Ich will nur einen und den andern Wein nennen.

Z. B. die öden, lustigen, gutartigen Mädchen, die statt des Kopfes nichts haben als zwei Füße, nichts können als lachen, singen und plaudern, und die nie beseelt sind, als wenn sie tanzen, wie die hölzernen Trommelschläger aus Nürnberg nur so lange trommeln und arbeiten, als das spielende Kind sie in der Stube herumzieht. -

- Oder die, die statt der Menschenliebe nur das, was sie oft damit verwechseln, haben, Männerliebe - die wie Misogyne keine Frau lieben als die im Spiegel und die nicht bloß hinunter-, sondern auch hinaufwärts hassen, wie die Affenweibchen unsre nicht ausstehen können. - (Ein Affe hingegen schätzet den Menschen stets, er sei von seinem oder vom zweiten Geschlecht.) -

- Oder die, die nur heiraten, um zu kochen - die gerade so gut und so böse sind, als ihr Mann sie haben will - für die ein Mann eine Erbschaft, eine quarta falcidia der Schöpfung, eine kleine Welt ist, und die nicht seine Liebe, sondern seinen Namen und sein Geld verlangen, und die die Fortuna so abbilden würden wie die Römer: mit einem Barte. -

- Oder die leidlichen, die so lange gut bleiben, als man sie einsperrt, und deren Gesang unter fremden Weibern und Männern wie der Kanarienvögel ihrer ausartet, wenn sie den Käfig mit dem Walde vertauschen. -

- Oder die, die die Tugend lieben, aber einen Tugendhaften noch ein wenig mehr - die mit allen guten Anlagen des Kopfes und Herzens gegen alle herumschleichende Unter-Teufel recht gut gedeckt sind, nur aber gegen gute Engel nicht; wie man denn überall, selber in den höchsten Ständen, noch Weiber findet (freilich sind solche schöne Ausnahmen selten), die den Sklaven ihrer Reize, wie der Plantagenbesitzer den seinigen, nicht bloß nach äußerlichem Gehalt, nach Zähnen, Jugend, Gesundheit, aussuchen, sondern die auch wirklich, wie der Sklavenhändler, ein gutes Herz und einen guten Verstand mit im Kaufe drein haben wollen oder gar mit bezahlen. - -

- Oder die, die nicht sowohl weich als flüssig sind und die man wegen den weichen Knochen ihrer Seele wohl lieben, aber nicht heiraten kann - deren feines Gefühl der gutmeinende Mann von früh bis abends in einem fort beleidigt und ritzet, und in deren Herz er Scharten stößt, wenn er nur mit einem Barthärchen an solches streift, so daß der gequälte Schelm sie nur wie eine von der Kopfnaht bis auf die Ferse geschundne Person voll Empfindung handhaben kann. - -

Alle diese Mädchen sind gut; nur nicht die besten.

Adeline war die einzige in Leolins Augen, die nicht unter jene, sondern unter diese gehörte. Ihre Mutter, die als eine Frau von Welt einen männlichen Schatz fast aus allen Wissenschaften besaß, hatte ihn auf ihre Tochter vererbt; und diesen Schatz trug sie nicht als ein prahlendes Schmuck-Gehänge, sondern als einen auf der Brust verborgen liegenden offizinellen Edelstein. Der Einfluß dieses Amuletts gab ihr - was bei ihrem Geschlechte ebenso reizend als selten ist -ein bescheidenes Interesse an Dingen - und an den Gesprächen darüber -, die vielleicht einer Frau so wichtig wie Küchen- und Putztisch sein sollten, nämlich an der Natur, an allen Welten, an dem Vaterlande und allem Großen. Das Getöse der Revolution machte ihre sanfte Stimme, wie das Rollen der Wagen oder eine nahe Mühle die physische der nächsten Anwohner, ein wenig stärker. Kräftige Menschen jagen gerade ihren Ebenbildern am wenigsten nach; daher war das milde Öl, das statt des Blutes aus ihrem Herzen in ihr sanftes Leben floß, die anmachende Nahrung des Feuers in Lismorens seinem.

Was braucht ein Mensch mehr, um auf der Stelle sich zu seinem ersten Liebesbriefe niederzusetzen, als eine Adeline mit dieser Milde - mit dieser Trauer über den Vater - mit diesem Herzen voll Gefühl und voll Teilnahme an Wahrheiten und Menschen - mit dieser Hülflosigkeit, die der Liebhaber halb verursachte und ganz heben will - - was braucht er mehr? frag' ich. - Wenigstens fand Lismore mehr: die treuste Tochter, die je an einem mütterlichen Herzen mit blinder Liebe hing; je sanfter und je weiblicher eine Tochter ist, je fester sie einmal ihr Herz an ihren Gatten heften wird: desto lieber und näher ist ihrem dasjenige, unter dem sie einmal lag. O! warum müssen die stillen, anscheinend-kalten weiblichen Seelen so oft gemißdeutet werden, da sie doch gerade für die nächsten Menschen, für Mutter, Gemahl und Kind, die größte Wärme und die größten Opfer aufbewahren? - Bloß deswegen: weil die meisten nur eine Wärme glauben, nämlich die sichtbare, d. h. die Flamme.

Der Graf war genug unter Menschen und Jahren herumgeworfen worden, um es zu wissen, wie man das Herz voll Neigung mit der rechten Glastüre versperren müsse; auch war er schon längst gegen jene Treibhaus-Liebe eingenommen, die einen Tanz-Abend braucht zur Blüte und einen Vormittag zum Abfallen derselben. Ein unerfahrner Jüngling wäre durch Adelinens Kälte traurig und irre geworden: er wurd' es nicht; er dachte sich erstlich in das scheue Herz der Tochter, die jetzt so nahe und so mitten innen zwischen dem Tode des Vaters und der Krankheit der Mutter das Verhehlen ihrer frohern Empfindungen zu ihren kindlichen Pflichten machen mußte. Zweitens war ihm, der immer glücklicher bei Schönen war als sie bei ihm, oft aus Bitterkeit und selten aus Eitelkeit die Voraussetzung geläufig, daß eine ihn liebe. Drittens fragte er nach nichts, er konnte alles verwinden, alles verlieren; »wenn Resignation« (sagt' er immer) »als Resignation einen Wert behauptet: so macht die Größe eines Verlustes sie nur nötiger und edler - kurz der Mensch muß entweder nichts oder alles verschmerzen, sogar die Hölle und die Vernichtung.« Denn an letztere glaubt' er fest. Er liebte also Adeline unaussprechlich; aber er schwieg, nicht weil sie schwieg, sondern weil sie zu schweigen zu sehr den Anschein hatte.

Dabei war er (im guten Sinne), wenn nicht ein Hof-, doch ein Weltmann: der Steig vom Genie zum Weltmann ist kürzer, als die Leute sagen, die eines von beiden sind. Seine unbiegsamen Bestandteile hatten unter Weibern und Geschäften ihre Sprödigkeit abgelegt; aber der wenige Gift, der sie flüssig machte, war in der Einsamkeit wieder verflogen, und er hatte in zwei sehr entgegengesetzten Lagen nichts verloren als die Mängel derselben; so macht Achard das spröde weiße Gold durch Arsenik so weich, daß man es in Gefäße formen kann; dann jagt er durch heftiges Feuer den Arsenik wieder heraus.

Der Graf war so verwöhnt, daß er sogar in Sachen des Gefühls immer Plane und Modelle machte: er vermaledeite seine Plansucht und sein - Bewußtsein derselben: »Wenn ich nur wenigstens« (dacht' er) »nicht wüßte, daß ichs auf etwas anlege.« Ihm fiel - zu seiner Ärgernis - gerade in die schönsten Täuschungen des Enthusiasmus, in die schimmerndste Beleuchtung der Opernbühne immer durch eine zufällig-aufgehende Pforte das Tageslicht der Besonnenheit ein. Ihn verfolgte jetzt das Bewußtsein des Plans, daß er bloß die Freundschaft der Mutter zu gewinnen und zu erwidern brauche, um die Liebe der Tochter dreinzubekommen. Seine Absicht war schön und sein Mittel unschuldig; aber im 14ten Jahre liebt man doch ohne beide noch schöner.

Anfangs begreift mans nicht, daß das Herz der Mutter ihn an Sohnes Statt annahm: sie, eine von den höhern Ständen vollendete Frau, mit gleich feinen und strengen Sitten, mit Gefühlen, die sie mit ebensoviel Anstand ver- als entschleierte, und von einer Erziehung, die ihren Geist und sogar den, der keine hatte, immer in engsten Schranken der Grazie und Tugend hielt. - Er hingegen, ein sogenannter »starker Mann« in genialischem Verstande, eine Sonne, aber umzogen von einem immerwährenden Ring oder Hof voll Stürme - unersättlich in Vergnügungen, obwohl in den edelsten, und ein Engel, aber nur in einem Himmel, und voll widerstrebender ungebändigter Kräfte, die den Weg seines Lebens wie einen römischen mit lauter großen Ruinen zu überdecken drohten. - Gegen solche Männer haben die Mütter sonst zu viel Mißtrauen, wie die Töchter zu wenig: - - gleichwohl wars dasmal fast umgekehrt; und die Mutter wurde seine beste Freundin aus drei Gründen, die recht gut sind.

Erstlich in Revolutionszeiten, wo immer um die Arbeiter am Bau des himmlischen Jerusalems der Freiheit Blitze aus dem Boden schlagen, in Zeiten, wo man sich gegen die Gewittergüsse, gegen Kröten- und Blutregen unterstellen will, sucht man nicht den zu einem Tier oder Menschen zierlich ausgeschnittnen Gartenbaum, sondern eine vollästige dickbelaubte Eiche, einen Lismore. Zweitens gibt es keine sanftere Periode bei einem Menschen wie Lismore, der eine weibliche Seele mit so vielem Ungestüm besitzet, als die, wo er sie erst sucht: man sieht kaum den starken eckigen Frakturbuchstaben vor lauter Zugwerk aus sanften Schönheitslinien. Der dritte Grund ist seine - rechte Hand: ich wills erzählen, ich sitze ja dazu da.

Adelinens Mutter hatte vom Schlagfluß einen zitternden Arm behalten: man sage, was man will, ein empfindungsloser wär' ihr lieber gewesen als dieser oszillierende; warum soll ein vortreffliches Weib nicht in den Fällen ein Weib sein, worin Tugend und Sitte es erlauben? Als Lismore ihr das erstemal die Hand küßte, wars ihr, als schieße Eiswasser die Armröhre hinauf, und das Zittern nahm ab. Sie gab beim zweiten Kusse darauf acht; aber es war kein Zufall. Sie sagt' es ihm; er merkte aber bald, daß nicht seine Lippen offizinell wären, sondern seine Hand, deren Heilungskräfte durch Berühren einwirkten. Kurz durch einiges Bestreifen ihres stechenden Arms richtete er in wenig Minuten die bebende Magnetnadel in einen ruhigen, nach ihm gekehrten Stand. Wer den Grafen nicht gesehen und also zweifelt, den verweis' ich auf den noch lebenden Grafen von Thun in Wien - und umgekehrt verweis' ich auf jenen, wenn einer diesen nicht gesehen -, welcher ebenso lahme Glieder durch Bestreichen herstellt.1)

Ich glaube, der Arm der Mutter steckte das Herz der Tochter mit einem andern Zittern an; aber hier war der Graf weniger die Sanitätsanstalt als die Krankheitsmaterie, und seine klinische Hand voll Arzneifinger heilte gerade durch Berühren am schlechtesten. - - Lasset mich doch an ihren heiligen vier Herzenskammern, worin beinahe nichts als die vier Evangelisten, nämlich ihre Heiligenbilder, sind, die Nachtriegel zurückschieben und nachsuchen, ob ich nichts finde! - Allerdings find' ich etwas, nämlich den kleingeschriebnen und mit sympathetischer Dinte gezognen Anfangsbuchstaben des Grafen, nämlich ein L (wenns nicht auf den Evangelisten Lukas geht). Dieses L ist der Dinte wegen den ganzen Tag unsichtbar, außer abends, wo die Wärme den Buchstaben ein wenig leserlich macht. - Jeden Morgen war sie ärgerlich, daß sie abends, von Lismorens geflügeltem Geiste angeweht, ein wenig wärmer gewesen, als sie nachher wollte. Das reine weiße Asbest-Blatt ihrer Seele, auf das sie jenes L zuweilen schrieb, warf sie jeden Morgen in die Flammen, die alles auslöschten und wegbrannten, ohne den geringsten Nachteil des Bergflachses selber.

Aber die Myrte der Liebe gehet wie andre Gewächse gerade bei stürmischem Wetter am meisten in die Höhe. Adeline merkte viel später, welcher Blumensamen in ihr Keime treibe; aber die Mutter merkte es früher als der Graf, und dieser früher als die Tochter: denn die erste Liebe verhehlt sich am wenigsten und kündigt sich immer, wie die Sonne im Frühling, mit einer längern Aurora an. Ihr Herz hält sich gleichsam unter dem Zelte eines Schleiers für sicher: hebe den Schleier ab, so verstummt es, als Gegenspiel des schreienden Kanarienvogels, der zu singen aufhört, wenn man ihn überdeckt. -

Aber es kam ein Tag, der alle diese Rätsel endigte und meine biographischen Belustigungen anfing. -

Es war vormittags, wo Adelinens Mutter fühlte, der nähere Tod spanne die von so vielen Schmerzen aufgeschraubten Nerven wieder zurück - die Saiten der zurückgedrehten Wirbel bebten schlaffer, aber tiefer und leiser - ungewöhnliche Tränen stiegen in ihre Augen, und sie wunderte sich nicht, daß ihr Herz, sondern nur, daß ihr Auge voll Tränen war. Ach! da mußte sie ja die treue Tochter ans berstende Herz ziehen und mit einem zweiten ihres verbergen und stillen. Sie sagte es niemand; aber sie wußt' es, sie könne eher die Erde als ihr Frankreich räumen, und indem sie sich gelassen zur Reise vorbereitete, setzte sie voraus, es sei die längere aus der Erde, und sie gehe über ein stilleres Meer als über den Kanal. Sie dachte den ganzen Morgen an den Grafen - zumal da er nachmittags mit Adelinen ein nahe liegendes Echo besuchen wollte - und an ihren Tod und an die Hülflosigkeit der Tochter; und sie nahm sich vor, ihr die Mutter-Hand noch einmal zu reichen, eh' sie erkalte und zerfalle.

Möge kein roher Mann der Zeuge von der weichen, zarten Umarmung sein, in der zwei weibliche gebildete Seelen in die Sphärenmusik einer milden, heiligen, melodischen Liebe, ohne den harten Durton einer männlichen, versinken! - Ja, ein Auge, das gern auf der Umarmung zweier Freunde ruht, muß sich noch mehr heiligen, um mit Entzücken auf das Umfassen zweier höherer Freundinnen zu blicken. -Und da ihr mein hartes Geschlecht kennet, ihr Teuren, so entrückt ihr ihm so oft den Anblick eines mißverstandnen Werts, wie die verehrten Statuen der römischen Götter durch Vergraben dem Zertrümmern, oder Mosis Gestalt durch Verhehlen dem Anbeten entzogen wurde.

Julie - so hieß die Gräfin - blickte ihre Tochter lange und mit unbezwinglichen Tränen an, die mit dem Profil sich in ihre Näharbeit vertiefte. »Adeline!« sagte die brechende Stimme. Die Tochter kehrte sich zitternd zu ihr; und der Ton und die Wangen voll alter Tränen hatten ihr alles gesagt, und sie fiel stumm, ohne eine einzige Frage, an den gequälten Busen - und sie küßten sich schweigend - und weinten schweigend - und gleichwohl blickten sie sich an und weinten noch mehr.

Julie drückte sanft die widerstehende Freundin von ihrem Herzen und zog sie endlich neben sich nieder auf ihren Sitz und fing an: »Tochter, wenn du einen Wunsch bisher hattest, so sag mir ihn jetzt: ich werd' ihn gern erhören - sag ihn!« - »Meine Wünsche sind Ihre, weiter hab' ich keine.« - »Nicht so, Adeline! - wenn du etwas wünschest, so begehr es jetzt von mir; ach! du weißt ja nicht, wenn du mich verlierst.« - »Nein, nein - ich wünsche nichts, als daß Sie froher sind - - und daß ich Sie wieder umarmen darf, das wünsch' ich, geliebteste Mutter!« -

Sie umfaßten sich, und unter dieser täuschenden Nähe der armen berauschten Sterblichen sagte die Mutter: »Tochter, rede anders! Wenn du einmal nach meinem Tode an mich dächtest und dich fragtest, ob ich irgendeine deiner Neigungen nicht genehmigen würde: sage mir, was würdest du tun, wenn du dächtest, ich würde sie nicht? Gib mir deine Antwort heute.« - (Nach einem langen zitternden Schweigen:) »Nein, nein, ich werde schon vorher sterben - was könnt' ich noch lieben? - Ach! teuerste Mutter, nennen Sie mir es jetzt, ich werde ja alles recht gerne fliehen, was Sie wollen.« - »Du sollst nichts fliehen; aber würdest du auch jeden Menschen lieben, den ich liebte?« - (Zu fein:) »Jeden, wie meinen Vater, würd' ich ihn.«

»Adeline, wie sprichst du! Du kennst mich heute nicht.« - (Ihr um den Hals fallend:) »O Gott! Mutter, wie verstehn Sie mich?« - (Sie an sich schließend:) »Bleibe nur so! Und sage mir heilig zu, als ständest du an meinem Sterbelager, versprich mirs, bald zu wählen. - Wähle, wenn dein Herz nicht zu viel dagegen hat, den Grafen.«.....

Aber hier mußte Adeline im Schwindel der Empfindungen, die sie umkreiseten, der doppelten Liebe, der Scham, der Freude, des Erstaunens, sich an den mütterlichen Busen lehnen, der zugleich ihr Schleier war, und sie hatte nichts in der Gewalt als die süßesten Tränen, und kein Ja, sondern einen langen Kuß. - Zärtlich sagte die Mutter: »So sagst du mir doch dein Nein nicht«; und leise lispelte ihr ins Herz Adeline: »Nein!« -

Nur der weiche Finger der Mutter konnte den Harpokrates-Finger, den sich Adeline immer auf ihre Lippen drückte, wegschieben und dann die schöne Seele im Nonnenschleier eilig an das Sprachgitter ziehen, damit sie da das Gelübde des weiblichen Schweigens noch schöner breche als halte. Aber allein die Mutter konnt' es auch nur.

Warum nehmen euch, ihr Männer, solche Charaktere nur auf dem Schreibtische und nicht im Leben ein? Warum schont ihr nicht ein scheues frommes Zögern mehr, das ihr bloß lobt? und wenn ihr so viel Recht habt, ein solches moralisches schreckhaftes Auffahren, einen solchen heiligen Skeptizismus, ein solches Mißtrauen gegen die zusammenkommenden Grenzen des Vergnügens und der Tugend zu begehren: so habt ihr eben darum weniger Recht, als ihr meint, die Gelegenheit zur Probe zu geben. - Ich sehe nicht ein, warum allemal ihr den Preis ihrer Siege oder die Beute ihrer - Kämpfe nehmen wollt und mit welchem Rechte ihr euch mit euern blutsaugenden Zungen an jede entblößte Stelle ihres Herzens anlegt, wie in Ost-Indien die Vampyre auf jeden Schlafenden, dessen Stirne nicht ganz zugedeckt ist, niederfallen und sie blutig lecken.

Gehe nachmittags, Leser, mit unserm blühenden Paar, das nun eigne und mütterliche Wünsche vermählen und das sich von einem glücklichen in nichts unterscheidet als in der Hoffnung, gehe mit beiden nachmittags nach der St. Georgen-Abtei bei Genetay, die zwei Stunden von Rouen obliegt. Die Absicht ihres Lustganges ist, dem seltensten Echo zuzuhören, das noch als Kapellmeister die aufs Chorpult eines Berges gelegten Melodien spielte. Es hat das Sonderbare1), daß ein Sänger da nur seine Stimme, Zuhörer aber seine nicht, sondern nur den Widerhall derselben, oft zwei Stimmen statt einer, und alle sie anders, bald näher, bald weiter vernehmen.

Auf dem ganzen Himmelswege hielt auf Adelinens Angesicht eine lebhafte schüchterne Verwirrung an, deren heutige Quelle und deren schönste Bedeutung dem Grafen verborgen blieb. Der helle wehende Himmel des Nachsommers wiegte gleichsam die Erde in den Winterschlaf, und unser Paar in den Seelenschlaf der Ruhe. Sie schwankten, auf dem bequemen Steige der Schönheitslinie, dem reizenden Echo entgegen und folgten Pfaden mit kleinen Krümmungen nach, so wie die Seine neben ihnen in großen dem Meere entgegenfloß.

Sie kamen an und durchstreiften die irdische Walhalla; aber fast so wie Lismore immer den Standpunkt verfehlte, auf dem seine Seele ihr Echo in Adelinens ihrer hören konnte, so ging es beiden auch mit dem Standpunkte des physischen Echo: sie fanden ihn nicht. Der Graf tröstete sich leicht darüber: eine weißblühende Allee von seligen Minuten war bis an den Abend für ihn gepflanzt, wo die Gräfin Mladotta mit einem Wagen kommen und die Tochter abholen wollte. Nur mit halben Lauten flog sein Geist, der seinen verwandten suchte, furchtsam und schnell um die zugeschloßnen Knospen der schönen Gefühle, die in Adelinens Herzen noch ohne Farbe und ohne Sonne lagen, wie sich Bienen an Kornblumen, die noch nicht aufgebrochen, hängen. Wie wenig brauchen zwei Menschen, deren Herzen voll sind, von der äußern Welt, wie wenig! Nur einige Blumen, keine englischen Anlagen - nur einen durchsichtigen Bach, keinen schiffbaren Strom - nur ein im Blauen flatterndes Wölkchen aus Silberfolie und die schwer aufgestellten goldnen Flügeldecken, womit ein beseeltes Flug- und Goldsandkörnchen aus dem ausgetrunknen Blumenkelche aufsteigt... Denn alsdann wird vom erwärmten Herzen nicht bloß die ganze Erde, sondern auch alles Kleine dankbar angezogen, wie Edelsteine nicht bloß Licht, sondern auch Spreu an sich saugen. - - Aber nur ein zweites bewegtes Herz ist die dunkle Kammer, worin diese Natur in Bewegung sich abmalt - unser Papier ist nur steife Leinwand mit festen, gelähmten Figuren.

Einige Tagblumen falteten sich schon zu, und die Seele, die Nachtviole in dem Nachtleben, tat sich weiter auf und öffnete sich den Sternen. - Ach! gleich eingeschifften Negersklaven werden wir von der Sehnsucht nach unserm wärmern, schönern Vaterlande am meisten zu nachts erweicht und gedrückt. - Aber beide erwarteten jetzt statt des Echo nichts weiter als die Mutter. Ein kühler Seewind, der sich mit Wimpeln und Brandungen müde gekämpft, trieb jetzt nur noch mit weichen Locken und Bachwellen sein letztes Spiel, und die Blumen wankten nach, da er von ihnen aufflog und mit den Vögeln sich in die Gipfel versteckte.

In solchen Stunden, wo die ganze Natur von ihren Blumen bis zum Abendrot, gleich den Blumen im Morgenlande, ein großer Brief der Liebe voll schöner Zeichen ist, da wurde der von einem halben Leben voll Taten nicht gesättigte Lismore durch die Wonne besänftigt und bezähmt; und er stand mit einem von den Liebesarmen der Natur festgehaltnen Herzen, das keine epileptische Schläge tat, süß in die gleich ihm gemilderte Abendsonne verloren, ein wenig von Adelinen weg, abgesondert durch ein Orangeriegeländer. Sie blickte umgewandt zurück nach der erwarteten Mutter und er nach der Sonne, die glimmend über dem Meere hing. Lismore begleitete sie mit einem Abschiedsgesange, den er, da er in allem ein Improvisatore war, eben selber machte. Der Inhalt davon war: »Kreise träger um, du goldnes Zifferblatt des Himmels! - Rolle nicht so schnell mit deiner Glut aus unserm holden Abend! Ach! zieltest du jetzt mit einem schönern Morgen über Amerika herauf? - Wirst du nur betaute Blumen, nicht auch nasse müde Augen aufschließen? Wirst du nicht, wie ein heißer Funke, auf manchen wunden Busen fallen, dem du ein langes Tagewerk voll Qualen auflegst? - Schlummre lieber in unserm Abendrot und laß dem armen Negersklaven seine tröstende Nacht, seinen Traum von dem entrückten Vaterlande und seine ruhige kleine Minute voll Kühle und Glück.« - - Auf einmal stockte seine Begeisterung: er dachte an sich und fuhr fort: »Ach! ziehe nur hin, wartet denn nicht in jedem Winkel auf dein Verbergen ein Auge, das weinen - ein Herz, das sprechen - ein Jammer, der ruhen, und ein Geist, der den Tag vergessen will?«

So sang er und glich der Nachtigall, die nach der Meinung der Perser allemal mit einer gegen einen Dorn gekehrten Brust zu schlagen pflegt. Adeline stand unwissend im Brennpunkte des Echo. Er hörte also nichts wie sich, aber sie hörte statt seiner bloß die zerteilte Engelszunge des Nachhalls, der die schöne Stimme in zwei zerlegte und damit wie mit zwei Armen das beste Herz gefangen nahm. Sie breitete, bis zum Weinen entzückt, ihre Arme auf die niedrige Orangerie hinter seinem Rücken aus und stellte sich vor, er höre den Doppelgesang auch. Sie hatte das Echo vergessen, weil der Mensch lieber einen Menschen als ein Echo voraussetzt, so wie er im Winter lieber dem Gefühle der Wärme, die ihm die Bewegung gibt, als der Gewißheit der Kälte glaubt. Endlich, da alles aus war, sagte sie mit einem ungewöhnlichen Tone. »Wie himmlisch! was für ein Ton! Ach! solche Herzen muß man lieben.«

Lismore kehrte sich betroffen zurück, und ein weiter heller Himmel voll Mondschein ruhte, von der schönsten Seele ausgemalt, auf dem schönsten Gesichte vor ihm. Sie fragte gleichsam sein Erstaunen: »Haben Sie das Singen gehört?« - Ihm war das Echo unvernehmlich geblieben; er sagte: »Ich weiß nur meines.« Sie wurde hochrot, sagte aber ebenso schnell als leise: »Ich habe Sie nicht gehört.« Ein Strahl beleuchtete jetzt das doppelte Rätsel, und Leolin verfiel auf den Maschinengott des Echo und sang, ohne weitere Antwort und von ihr abgewandt, die Worte gegen die Abendsonne: »Sinke nur ein, o Sonne, das Echo und Adeline, und der Mond und Julie gehen in deinem Himmel auf, und du wirst nicht vermißt!«

Eilig drehte er sich zur irrigen Zuhörerin zurück und sagte bittend-beklommen: »Nehmen Sie darum alles zurück, was Sie gesagt haben?« - O! welcher begeisterte Genius lähmte die Irrlehrerin mit einer verwirrten süßen Unbeweglichkeit? Ihre weißen Arme blieben auf das Grün wie Schmetterlingsschwingen gedeckt - ihr bestürztes und beglücktes Auge zog die ersten Blicke der überraschten Liebe zu langsam zurück - und die Beschämung über die Verwechslung nahm der Zunge die Kräfte des Widerspruchs. Die Sonne tropfte wie geschmolznes Gold in das nahe Meer - aber eh' sie in den Fluten erlosch, flatterte ihr blendender Purpur vor Adelinens Auge und verdunkelte es - und in einer Träne wurde die augenblickliche Nacht und der Purpur größer - und nun kniete, in der flüchtigen Unsichtbarkeit ungesehen, ihr Freund vor sie hin und zog ihre Hand über die kalten Orangen herab - - - und zum ersten-, erstenmal in seinem Leben war ihm, als zöge die Fahrt seines Lebens eine lange schimmernde Furche in die Vergangenheit, wie Schiffe ins Meer eine leuchtende Straße bahnen. - Alles Erhabne in seiner Seele stieg auf und sagte ihm: schweige nur heute und laß die Beklommne schweigen. - Er schwieg; aber die augenblickliche Nacht war die Amors-Binde, die Adelinen den schönen Verlust der Hand und des Herzens verdeckte, wie physische Glieder nur mit verbundnen Augen abgenommen werden. Ihre Seele sank in seine glühende, wie einmal Planeten in die Sonne fallen. - Ach! da die Sonne hinunter war und da sie ihn anblicken wollte, da fühlte sie erst, wie viel sie ihm gegeben habe.

Nun ging auf der bleiche Mond und die - bleiche Mutter: ach! zwei glückliche Tränen und eine Wangenröte sagten ihr alles, und als die Tochter sie zitternd und heftiger als sonst umarmte, war ihr denn da die brennende, bebende Lippe auf ihrer Hand zum Lösen des Rätsels noch nötig? - Aber der reiche Perlenfischer kehrte mit der hellsten und reifen Perle eines Weiberherzens, das sich aus dem reinsten Busen so schimmernd abgeschieden, geschmückt und glänzend nach Hause.

Drei himmlische Genien flogen mit den drei Menschen; aber ein einziger Genius weinte.

Vierte biographische Belustigung

Der Tod

Wenn der Krieg seinen Ameisen- oder Maulwurfspflug auf unsrer Kugel einsetzt und mit einer Pflugschar, welche Länder durchschneidet, die aufgeworfnen Ameisen-Hügel, die man Städte nennt, aushebt, umstürzt und zerreibt: so schämt man sich beinahe, die Wunde einer einzelnen Ameise anzumerken, oder am Ufer der Blutbäche seinen eignen vergoßnen Blutstropfen mit der Blutwaage des Doktor Glasers auszumessen; aber woraus bestehn denn diese Bäche am Ende als aus den Tropfen einzelner Wunden? Fallen denn nicht alle aufgehobnen Hämmer des Hammerwerks der Kriegsmaschine immer nur auf einzelne Herzen herunter, jeder Hammer auf seines? - Oder soll im Kriege die Menge der Unglücklichen mir den Anteil an einem einzigen vermehren? Dann könnt' ich auch außer dem Kriege niemals einen nehmen: denn wenn ich den Raum, in den jede Stunde die unzähligen Seufzer und Wunden der Menschen zerstreuet, mit der Phantasie zusammenziehe: so steht ein Schlachtfeld vor mir.

Verurteile daher, du, der du vielleicht in dieser Minute den tausendschneidigen Sichelwagen des Krieges den Berg herunterrollen siehst unter die unten am Abhange seiner Bahn liegenden Kinder und Mütter, verdamme in deinem schönen Schmerze den unaufhörlichen nicht, womit du jetzt eine Tochter neben ihrer toten Mutter erblicken wirst - Adeline neben Julie.

In der Mutter kündigte sich der zweite Schlagfluß durch weichere Herzensnerven an, die ohne Nervenhäute entblößt in die Krallen des Kummers fielen. Die Zurüstungen zur Reise wurden ihr die zu einer letzten: jedes aufgemachte Ringfutteral stellte ihr die verwesenden Finger vor, denen sie den ersten Ring der Liebe gegeben - jedes zusammengelegte Kleid war das noch oben schwimmende Gewand ihres vorigen schönern Frühlings, der nun in die Fluten der Zeit hinunterfiel - jeder Traum enthauptete ihren Gemahl - und da sie an einem Morgen in der Schlaftrunkenheit die blasse, mit Rot umwölkte Sonne, die gegen Süd-Osten, über der Gegend von Paris, aufging, für sein bleiches, mit Blut umfloßnes Haupt ansah, so schwindelte und erstarrte das ihrige, und - ihr Geist zog in den Äther und sah nur von ferne die Erde die Ruinen seines eingefallnen Kerkers um die Sonne tragen.

- Als die Tochter den Leichnam erblickte: fuhr aus ihm gleichsam ein eiskalter Schmerz wie eine kalte Schlange und rollte sich um ihr Herz - und dann sog ers aus - und schwellt' es wieder auf mit heißem Gift - und so hing es erdrückt-welkend, ausgeleert und brennend in seinen Natter-Ringen und Giftzähnen. - Vergeblich, armer Lismore, reichst du ihr die lindernde Arznei des Trostes; sie kann sie nicht einnehmen - sie ist nicht ungehorsam, sondern taub gegen den Trost.... Gehe weg von mir, du blasses Bild! du tust mir zu wehe, und ich tue andern zu wehe! - - - Warum nehm' ich mir so oft vor, dem Schmerze weniger Farbe und nur einen kleinern Hintergrund in meinen Gemälden zu geben, und warum kann ichs nicht? - Erinnr' ich mich denn nicht, daß der beßre Mensch, wie ein Hoherpriester, keine Trauer tragen soll und daß ich mich und den andern, da wir uns auf der einen Seite so sehr verhärten gegen die Räubereien des Glücks, gegen den Lockenraub, die Kelchberaubung, den Brot-, Obst- und Ehrendiebstahl desselben, daß wir uns, sag' ich, wieder auf der andern zu sehr erweichen gegen seinen Menschen- und Leichenraub? - Ach! ich denke wohl daran; aber ich denke auch, dieser Schmerz ist nur eine höhere Art zu lieben und eine sanftere zu leiden; und wie will ich die Phantasie bezwingen, wenn sie mich vor die überflorte Adeline führt, die am meisten darüber klagt, daß der Schlagfluß die Zunge ihrer Mutter früher starr gemacht als das Herz? - »Ach! sie wollte mir noch etwas sagen und konnte nicht«, sagte sie. Unter allen Trauerreden kränkt mich allezeit diese am meisten, wenn ich höre, daß der Tod einen geliebten Menschen wie ein Sturm aus der Erde gerissen, ohne daß er hätte mit einem einzigen unvergeßlichen Worte oder Blicke von den Seinen Abschied nehmen können; denn wenn die aufs Grab gesteckte Trauerweide ausgestorben, wenn alle Trauerkleider über den Dahingegangnen verschenkt sind, und wenn nur die jährliche Feier seines Sterbetages das Auge mit einem flüchtigen Schmerze benetzt: so vertrocknet doch der bittre scharfe Tränentropfe nicht, wenn man denken muß: »Er verschied stumm und konnte keinen Abschied nehmen.« - Aber du noch Ärmerer! wenn noch dazu dein Geliebter weit von dir in der Todeswolke erstickt und verschwindet: so bringen dir alle Jahre keinen Trost. - - Und eben darum, wenn bei euch ein Fremdling begraben wird, so scharret auf seine letzte Erdenbürde nicht ein langes Kreuz, das so bald verraset, sondern drückt ein hölzernes oder ein metallnes mit der Tafel seines Namens und Alters hinein, damit doch, wenn er vielleicht einen Freund, einen Bruder, einen Vater hat, der ihn nicht vergessen kann und der die jammervolle Reise zu seinem Grabe macht, um nur das Trauergerüste, die Wohnung, die Decke der hinter Erde ewig versteckten geliebten Brust zu sehen, ich sage, bezeichnet doch dieses Aschen- und Blutgerüste, damit der Reisende seinen Toten finde in der Wüste von Toten. - Ist er wieder fort mit dem gestillten Schmerz, dann falle immer das eiserne Kreuzchen um, und die metallische Inschrift lösche aus, und das Grab platte sich ab. - - Ach! es tut wehe durchs ganze lange Leben, wenn man, wie ich, denken muß: »Deines hat kein Zeichen, wie das Grab eines Begrabnen im Meere.«

- Als Julie, die sich wie eine abgepackte Rose noch im Sarge rötete, endlich durch die letzte Scheidewand des Lebens von ihrer Tochter, die im Kontraste mit ihr einer schneeweißen Rose glich, geschieden war: zog die Untröstliche gern aus ihrem Mutterlande mit den zwei Brustlocken, die sie mit tausend Tränen dem eingesargten Haupte abgenommen. Sie wanderte gern aus, sag' ich, aus einem sonderbaren Grunde: sie durfte außer Landes um ihre Mutter Trauerkleider tragen. Du teure Blondine! (aber die Natur machte dich nicht allein dazu!) Schwarz kleidet Blondinen, und das Schicksal faßt dich in Trauer ein, wie man dem weißen Demant elfenbeinernes Schwarz unterlegt. - Aber du hast deine Reize vergessen und deine Liebe: und dein Geliebter wäre beider unwürdig, wenn er jetzt dich an sie erinnerte.

Sie sehnte sich nach Schottland, weil die Schwester des Grafen sie erwartete; denn eine verwaisete Tochter legt ihr wundes Herz lieber an ein weibliches als an eine männliche Brust. Lismore eilte: denn das aus allen gallischen Hauptstädten herausklingende Glockenspiel von tausend Totenglocken so vieler Schuldlosen nagte mit den tödlichen Bebungen einer Harmonika ihre zitternden Nerven auseinander. Geprüftes Frankreich! verkenne die Zukunft nicht, wenn der Orkan alle giftige Seeungeheuer aus dem Schlamme deines weiten Meers vorwühlt, wie die Stürme aus dem Meersboden nicht bloß Ambra, sondern auch Giftfische ans Ufer stoßen. -

Aber wie trübe war der Anblick, da Lismore wie ein Delphin seine traurige Geliebte aus diesen blutigen Wellen an die zweite freie Küste trug! Adeline, die nun erst auf dem Meere den Schmerz empfand, einem Vaterlande und zwei teuern Gräbern den Rücken zu kehren, legte schon im Schiffe die ewige Trauer an. Ach! es wurd' ihr so schwer, zu leben! Halt es ihr nicht vor, daß sie sich die stumpf geweinten Augen gar blind mache! Fliegt denn nicht ihre Seele, wie eine abgeschiedne, ewig über der bedeckten Höhle der besten Mutter? Ach! ist es denn nicht gerade jetzt mitten auf ihrer Lebensreise, wo sie kaum 23 Jahre hinter sich hat, daß sie von ihrer Führerin verlassen wird, die sich, wie der Reisegenosse des jungen Tobias (aber früher), verwandelt in einen aufsteigenden Engel? - Ach! und wenn du nachts einsam vor dem Mond, der aus Wogen quillt, wie dein Auge aus Tränen, wenn du da müde und still (um nicht getröstet zu werden) und so lange, als du darfst, zurückblickst nach dem unvergeßlichen Lande, und wenn dich dein Schmerz auf den Hügel ihrer Himmelfahrt trägt, und wenn du dann unermüdet dem Herzen nachsiehst, das hinter den Sternen verschwand: ach, du Traurige! welcher Traurige, der nur ein einzigesmal hinter einem Totenkranze ging, wer könnte dich tadeln oder nur stören?

Fünfte biographische Belustigung

Trauer einer guten Tochter - Neujahrstag - Derbystoner-Vase - Zweck der Ehe - Argwohn

Ich glaube, unsrer Adeline konnte der lange Katakombengang ihrer Zukunft nicht neblichter und bergiger vorkommen als Schottland, noch finsterer, als das Gesicht war, womit die Schwester des Grafen ihr bis auf eine Stunde vor Glasgow entgegenfuhr. Jane Gladuse (Johanna Klaudia) war nämlich in ihrer Jugend von ihrem Eheherrn wieder freigelassen worden, bloß mit dem Ehe-Ring signiert, als Zeichen ihrer verlornen Freiheit, wie man die von Falken gefangnen Reiher mit einem Ringe, der den Fürsten und den Datum des Fanges entdeckt, wieder fliegen läßt. Sie war eine verwitibte junge Dame von 49 Jahren und gehörte unter die Witwen, die man, wie den grünen Tee, fünfmal aufgießen (nämlich heiraten) kann, ohne sonderlichen Verlust ihrer aromatischen Kraft. Nun saß gerade jetzt ein zweiter Aufgießer oder Abonnent auf ihr Exemplar in London, der bald die Winterlustbarkeiten mit den Frühlingskuren zu Glasgow zu vertauschen versprach. Nicht die Ankunft ihres Bruders, den sie so innig liebte wie ihren zweiten Abonnenten und Prätendenten, sondern seine mitreisende Trauerschleppe war ihr verhaßter als Robespierres Schweif: denn an seiner Heirat zerschellte wahrscheinlich die ihrige. Ihr fiel, wenn er ein Hagestolz blieb, die Hälfte der durch sein Leben gehenden Transito-Güter anheim, als eine aufs Zölibat gelegte Taxe. Bisher hatten ihn nun nicht nur alle Mädchen, wie wir wissen, durch die gedrohte Anwartschaft der täglichen Gefängnisfieber vor der Conciergerie der Ehe gewarnt, sondern auch Jane selber: denn Lismore war Zeuge gewesen, daß seine Schwester mit ihrem Eheherrn ganz anders als Xanthippe mit Sokrates zusammengelebt; denn der Grieche hatte bekanntlich Geduld und die Griechin Kinder. Aus dem Anblicke ihrer Ehe und aus deren Kontraste mit den romantischen Hoffnungen, die sich der Graf vom Glücke der seinigen und von der möglichen Identität zwischen Braut und Gattin machte, kann ich mir ja viel besser als aus andern Gründen eine recht stachlichte Verzierung seines Saals erklären: man weiß nämlich, wenn in der einen Nische eines Saals eine Statue steht, die man einheizt, so muß nach dem Stuben-Rhythmus in der andern eine gegenüberstehen, durch die das Schloß (wie z. B. des Fürsten v. Esterhazy seines) abbrennt, wenn der Ofenheizer Feuer anmacht. Zu diesen zwei Ofenpuppen wählte der Graf in der einen Blende einen Amor, den man heizte, und in der andern den Hymen, in den nie ein Schwefelfaden kam.

Adeline schloß ein nachsichtiges freundschaftliches Herz für die Schwester auf, deren Bruder ihr noch außer dem seinigen so viel gegeben: sie war überhaupt die schöne Gegenfüßlerin der meisten Mädchen, die gegen Herren sich nicht genug bücken und gegen Mitschwestern sich nicht genug zurückwerfen können und die Zurückhaltung und Gefälligkeit an die unrechten Geschlechter verteilen. Mir geht die junge Dame, Jane Gladuse, nahe: denn eh' beide zum Tore einfuhren, mußte sie - sie setzte sich vergeblich dagegen - wahrhaftig die bleiche Emigrantin von Herzen lieben. »Die gute Fremdlingin hat ja auf ihrem Gesichte das Spanisch-weiß und Perl-weiß und Orgelmacher-weiß beisammen, und betrübter und betränter könnte man gar nicht aussehen«, dachte Gladuse, und aus der totalen Sonnenfinsternis ihres eignen Gesichts wurde eine partiale. Denn sie war ebenso mitleidig als neidisch oder verlogen, und die aufrichtigsten Tränen entflossen ihr so leicht wie die falschesten Worte. Überhaupt wünschte sie von Herzen, daß es ihrem Nebenmenschen - sie konnte sonst keinen mitleidigen Anteil an ihm nehmen - recht jämmerlich erging: denn sie war die beste Freundin in der Not und half so lange, bis man heraus war; dann erst fing sie an zu beneiden und anzufeinden; sie konnte nie, wie der kahle Hofmann, dem Glücklichen ihre Freundschaft schenken. - -

Eine weibliche emigrierte Dienerschaft, die schon vor Adeline über den Kanal geschwommen war, hatte das achte Stockwerk im Hause des Grafen - denn in Schottland haben die Gebäude, z. B. in Edinburg, oft 12 Stockwerke - schon besetzt und zurecht gemacht. Ihrem hohen Stockwerke diente und zinsete, wie einem Throne, die ganze Gegend um Glasgow mit ihrem Reize und ihrem Clide-Fluß; daher räumte ihr der Graf es aus: die weite Perspektive sollte ihre Wehmut zerteilen; aber in einem fremden Lande tut eine große Aussicht oft das Gegenteil. Als sie heute zum erstenmal in den neuen Zimmern einsam war, weinte sie recht von Herzen, und zwar in dem Zimmer, das schon lange für ihre Mutter zugerichtet war; aber sie legte sich freilich die anklagende Frage vor, wie sie allezeit dem edelmütigen Grafen für die balsamischen Blumenbeete, womit er den ganzen Weg ihres Lebens umbaue, in dem Grade danken könne, den sein Feuer begehren werde.

- Ich wollte, ich könnte jetzt den Winter, wo die Natur die stärkende Frühlingskur gebraucht, so aus Adelinens trübem Leben ausstreichen, wie er in warmen Ländern fehlt. Wie die Krankheiten des Frühlings sich im Winter entspinnen: so umzog sie der Winter mit einem Dunstkreis voll Krankheitsmaterie, in dem jeder Atemzug dem Frühlingsfieber ihres Herzens verarbeitete. Du Unglückliche! Denn gerade im künftigen Frühling hatte der Graf deiner Mutter zugesagt, das Vermählungsfest der großen Natur mit seinem eignen zu feiern und in die Flitterwochen des Wetters die seinigen zu verweben. - -

- Adeline war unter der See- und Landreise, ausgenommen den ersten Tag, weniger in sich gewandt - gefaßter - und aufmerksam auf ihn gewesen, und er konnte den schönen Fluß seiner Stunden, den der Schiffspöbel bloß mit Sand- und Trinkgläsern1) maß, nach den sanften Blicken berechnen, die ein dankbares Auge, wenn es sich abgetrocknet hatte, auf ihn warf. Er erwartete in Glasgow, diesem sogenannten schottischen Paradies, den Wachstum seines eignen - aber hier schloß sich sein kleiner Himmel wieder zu: was Adeline gewesen war, ist ihrem ganzen Geschlechte auf Reisen eigen, weil es da der männlichen Brustwehr bedürftiger ist. Aber in den bessern Zimmern, in denen sich so traurig die schönen ihrer Jugend und die letzten schlechten ihrer Mutter abspiegelten, hörte die kurze Meerstille ihrer Seele auf. Der Jammer ergriff ihr geschwollnes Herz und drückte aus ihm jede Träne, die auf der Reise nicht vergossen wurde. Die Schwester des Grafen, die ohnehin der Pfeilerspiegel ihrer Nächsten war und die zwar nie zuerst, aber auch nie zuletzt mitweinte, machte die Weiche noch weicher. Beim kleinsten Sandkorndrucke eines Gedankens einer Ähnlichkeit flossen ihre gedrückten Augen über. Konnte sie in die Untertasse ihrer Teeschale, worein eine Rose und zwei Rosenknospen eingebrannt waren, hineingehen, ohne an ihre Mutter zu denken, die immer wahre Rosen getragen und gepflegt und der sie eine seidne auf die zerfallende Brust in der Stunde ihres letzten und tiefsten Untersinkens angesteckt hatte, weil die wahren schon vor ihr entblättert waren? - Konnte sie ihre Hand auf ihr Herz legen, ohne es an die weiche Locke, an der es schlug und die nicht von ihrem, sondern vom begrabnen Haupte dahin gefallen war, wie in tausend Dornen zu drücken? - Ach! schoben nicht hundert andre Zufälligkeiten die Hoffnung des Grafen auf, ihr in die bedeckte Höhle der Geliebten hinabgesunknes Herz, das am geliebten zerstäuben wollte, wieder in den Sonnenschein des Lebens heraufzuziehen? Nur ein Beispiel!

Als sie am Neujahrsvormittage mit seiner Schwester ein wenig bald in die Kirche fuhr: war diese ausgeleert; aber unter dem Fußboden zitterte ein unverständlicher melancholischer Gesang, so ungefähr als wenn aus den zusammengefallnen Toten in den Kirchen-Begräbnissen unterirdische Stimmen gingen. Von welchen Ähnlichkeiten wurde Adeline am Morgen des ersten verwaiseten Jahres angefallen! - Das Singen kam daher: in Schottland haben die Kirchen zwei, oft drei Stockwerke. - Derselbe Prediger hält in den Frühkirchen zwei Predigten (oft über einen Text) hintereinander, die bloß der Gesang und das Stockwerk voneinander trennen. Adeline hatte also im zweiten das Souterrain-Getöne des ersten gehört... Das Schicksal hatte einmal beschlossen, den ersten Tag des Jahres mit lauter dicken schottischen Wolken zu überziehen: denn als sie aus dem Tempel ging, lagen im Kirchhof zehn Menschen, rufend und zuckend, auf den beschneiten Hügeln. Zehn Gespenster hatten schon Adelinens Herz mit kalten Händen gefaßt und erkältet, eh' ihr die Begleiterin sagen konnte, daß es nur Konvulsionärs wären, die man aus der Kirche dahin trage und die nach einer Viertelstunde von selber davongingen, ohne in ihrem Gedächtnis oder an ihrem Körper eine Spur davon mitzunehmen.

Der gute Graf, durch dessen Herz alle Dolche des ihrigen drangen, konnte nicht erraten, wie manchen er leicht hätte abwenden können. Wenn sie abends mit jener freundlichen Helle trauriger Augen, die mich so betrübt, in ihr Schlafzimmer fortgegangen war: so kam sie doch morgens mit erhitzten, trüben daraus zurück, und das bloß eines - Hutmachers und eines Stecknadelhändlers wegen. Dieser wohnte ihr gegenüber im dritten, und jener im zweiten Stockwerke des nämlichen Hauses. Auf der gewöhnlichen gelben Grundierung desselben war nun - wie in mehrern schottischen Städten, z. B. in Edinburg, Sitte ist - die Ware, womit jeder handelte, nicht herausgehangen, sondern angemalt. Oben auf dem Hintergrunde, nämlich im dritten Stockwerke, standen Farbenköpfe2), und unter den unbedecktem Köpfen im Mittelgrunde, im zweiten, gleichsam die herabgefallnen Hüte. Ach! verarget es einer in die Fremde gerißnen, zwischen den Schatten zweier Grabmäler trauernden Waise nicht, wenn ihr Auge, das der Traum zwar schließt, aber nicht trocknet, zwischen dem gemalten kahlen Kopfe und zwischen dem enthaupteten ebenso traurige und so tödliche Ähnlichkeiten ausfindet, als die waren, womit der Aufgang der Sonne den Aufgang ihrer Mutter beschleunigte! - Ich sage, verdenkt ihrs nicht; und ihr könnt auch nicht, wenn ihr noch hört, daß jeder Traum ihr die Mutter in die Hände gab, die allemal eine frische Rose voll Tau neben dem silbernen Busen-Kruzifix stecken hatte und die zu ihr sagte: »Adeline! wo muß unser Graf (Adelinens Vater) so lang' in Paris bleiben? Wir wollen ihm doch entgegen.«

- Ach, beraubter Mensch! denkst du denn nicht daran, wenn du abends vor dein Bette, diesen Tempel der prophetischen Orakel, trittst, daß mitten im Totentanze unsrer Horen, mitten auf der Erde, diesem Zergliederungshause der Zeit, die mit ihrer Haarsäge unser kleines Jahrfunfzig in Sekunden auftrennt und alle feste Gestalten in Pastellgebilde, denkst du denn nicht daran, daß der Traum die Pastellgemälde unsrer Geliebten fixiert, daß dieses Echo der Zeit uns alle begrabnen Stimmen wiedergibt, die in schönern Tagen harmonisch in die unsrige einfielen und die nun klingen zu hoch über uns oder zu tief unter uns? - Ach! ohne den Traum, der um den im Schlagflusse Erblindeten musivische Welten voll Tulpen und Juwelen stellt, und der die umgeworfnen Lebenden mit aufgerichteten Toten umzingelt, ach! ohne ihn würd' es ja zu lange, bis wir unsre Brüder und Eltern und Freunde wiedersähen; wir würden ja durch den Tod um uns her mit jedem Jahre zu sehr verarmen, wenn nicht die Träume den Schlaf, das Vorzimmer der Gruft, mit den Brustbildern derer, die im zweiten Leben wohnen, behingen. Freilich, arme Adeline, arme Julie! gehört ein ganzer Tag dazu, um eine Nacht zu vergessen, worin ihr unten im wogenden Wasser-Spiegel des Traums das geschloßne Grab und die geschloßne Wunde von neuem und zu weit aufgerissen wiedersahst. - -

Da Lismore nur heftigen, nicht dauerhaften Kummer leicht mit dem andern teilte - weil die Sympathie mit jenem bloß Feuer, die mit diesem kalte Vernunft begehrt und weil seine eigne Standhaftigkeit überhaupt auf eine fremde drang -: so konnt' er anfangs nichts tun - ob er gleich mit Freuden alle fressende Gifttropfen ihres Grams aus ihrer Seele in seine gesogen hätte -, als ihren Schmerz vergrößern, um ihn mitzuempfinden. Er warf sichs vergeblich hinterher vor, daß er in allen Unterredungen seine Beredsamkeit verwende, sie untröstlich zu machen; aber er konnte den Strömen seiner Gefühle nicht Einhalt tun. Am meisten tadelte er sich über das neue Jahr.

Er ging nämlich mittags zu ihr hinauf und machte das arme gepreßte Herz seiner Geliebten, deren Kirchweg heute schon durch eine Zypressen-Allee gelaufen war, durch sein Neujahrsgeschenk noch schwerer. Es bestand nach der vornehmen Londner Sitte in einer Derbystoner-Vase. Das Gemälde darauf war seine eigne sonderbare und doppelsinnige Erfindung. Die Venus Urania, neben der als ihr Abzeichen ein Schmetterling flattert, ruht mit der Hand vor dem Auge an einer Begräbnis-Urne, und Amor beugt sich gegen sie und nimmt mit der einen Hand ihre vom Auge, um sie zu wecken, weil die Aurora mit ihren zwei geflügelten Rossen herauszieht, und hält mit der andern die Fackel umgestürzt, um sie auszulöschen oder abzukehren, damit sie den Schmetterling nicht versenge, der über einem auf der Erde liegenden Blumenkranze schwebt. Aber alles das konnte auch heißen: Adeline verhüllt ihr weinendes Auge - der Blumenkranz, der letzte Schmuck der griechischen Leichen und Tränen-Urnen, lag für den Schmetterling, das Bild der abgeschiednen Seele, zur Nahrung da - Amors Fackel funkelte aus, um den Kranz und die Psyche zu schonen, aber er wollte die Weinende fortziehen, damit nicht Aurora, deren Raube die Griechen das Sterben der Jugend schuld gaben, die Geliebte ereile und nehme. - Der Graf sagte, als ers Adelinen gab, nur den schönen Wunsch: »in diesem Jahre möge sie (die Vase) den schönern Sinn haben.« - Adeline fand sich sogleich in den mythologischen Doppelsinn - denn Leute ihres Standes haben ja an jedem Zimmer einen Hör- und Bildersaal der Götterlehre - und gab, indem ihr langer warmer Blick mit dem violetten Amethystgoldsand auf dem transparenten Silber des Flußspats schwimmend zitterte, ihm lächelnd außer dem Danke die unerwartete Antwort: »Es könnte auch einmal noch einen dritten Sinn bekommen, wenn es deren zwei hat. Man könnte einmal denken: die Aurora sei schon bei der Entschlafnen gewesen - der Schmetterling sei eben aus ihr geflogen - den Genius, der die eine Hand zur andern gefaltet niederlegen will, den kennt man ja an der umgestürzten Fackel.« Und als sie es gesagt hatte, konnte sie ihre wärmsten Tränen nicht mehr zurückhalten.

Sie setzte sich matt in das Fenster-Kanapee (Window-Stool) - Leolin stand vor ihr, voll stürmischer Gefühle und voll Haß gegen jeden Trost. Das Fenster, oder vielmehr die gläserne hohe Pforte, schauete gegen Mittag. Die großaugige Wintersonne hing tief über den schillernden Bergen - über die von einem Tizian weißgrundierte schimmernde Erde legte sich die grenzenlose Nacht eines tiefern Himmelblaues herüber, und in die einsame, starre, stille Welt hing gleichsam die Lilienglocke eines fernen, unendlichen Frühlings, nämlich die Sonne, weiter herein - und dann quoll in der Menschenbrust eine warme, schmerzliche Sehnsucht auf. Nie war seine Seele weicher und sehnsüchtiger, nie rückten Wonne und Schmerz darin Tag und Nacht näher zusammen als an einem hellen Winternachmittage, wo gerade der Tag der Erde und die Nacht des Himmels, der alsdann nur einen Stern trägt, schneidend übereinander stehen. Aber doch, Lismore, hättest du deine furchtsam Adeline nicht vor das tobende Meer in deinem Geiste führen sollen! Warum lässest du auf der einen Seite so zärtlich den weiß-seidnen Vorhang nieder und ziehst ihn hinter ihren Sitz ans Fenster gegen die blendende Sonne vor, indes du auf der andern auf ihre Wunden alle Brennpunkte deiner heftigen Seele richtest? Wenn du deine glühende Hand durchs auseinandergelaßne Fenster in das Kühlbad der Jennerluft hinaustauchst: warum entzündest du mit deiner andern deiner Geliebten ihre zu größern Schmerzen, und o! warum kannst du zu ihr sagen: »Im Winter betrübt mich die Gegend nach Süden - ich denke nicht bloß an die südlichen Polarländer, denen die matte, tiefe Sonne einen immerwährenden Tag und einen kargen Frühling gibt - ich denke an das schönere Land, das uns unsre Berge verdecken, an unser Frankreich. Und dann kömmt mir der Obeliskus1) dort wie ein Epitaphium vor. - - Teuerste, aber Sie müssen sich trösten: denn Sie versehrt und zerrüttet der Schmerz; und nur in meiner Seele kann er ruhig seinen Dolch umwenden, sie stirbt nicht daran. Ich male mir es oft, wenn die Sonne über diese Berge steht, hier mittags aus, was ich und Sie dort verloren haben - ich stelle mir Sie neben unsrer Unvergeßlichen stehend vor, wie Sie neben ihr blieben als ihre letzte gute Tat, wie man über Raffaels Bahre sein letztes Meisterstück, die Verklärung, stellte.« - Adeline hatte sich in der Marter der Erinnerung auf Lismorens Hand gebückt, und ihr Auge deckte mit ihr sich und tausend Tränen zu. Ach! er fuhr gerührt fort: »Gequälte! warum fragen Sie etwas nach dem Schicksal oder nach den Schmerzen, die es reißet? Beim Himmel! ein so dürres und trocknes Leben voll Stacheln und Wolken wie das menschliche, eines, das so klein ist wie ein Epigramm und das am Ende eine Giftspitze hat, das verlohnt Ihres Weinens nicht, Adeline!.... Ein Geist wirft uns von oben herein in das Leben, und dann zählt er 70 oder 80, wie wenn wir einen Stein in einen tiefen Krater werfen, und beim 70sten Pulsschlag oder Jahre hört er unsern dumpfen Auffall unten im Grabe. - - Aber ich quäle dich und wollte dich trösten; wahrlich, ich meint' es anders......«

- Aber am Ende führte ihre Trauer ihn auf einen Zweifel, der seine Tage noch mehr verfinsterte, als es der Jennerhimmel tat, auf den, ob sie ihn auch liebe, da die tote Gestalt der seinigen wenig Platz oder wenig Licht in ihrem mit Flor verhangnen Herzen lasse. Hätte sie ihm die Unterredung mit ihrer Mutter, die soviel für ihn tat, anvertrauet: so würde er lieber Öl in die um die erblaßte Gestalt angezündete Begräbnislampe nachgefüllt haben, anstatt es auszugießen. Dazu kam, daß Adeline ihm ihre Liebe gleichsam wie eine zweite Selbstliebe, wie ein inneres Frohsein zu bekennen scheuete im Kummer, und daß die Gegenwart seiner Schwester und die Abwesenheit ihrer Mutter ihr dieses Bekennen noch saurer machte. Er übersah, daß sie aus denselben Gründen handle und fehle, aus welchen er sie mit Vorwürfen ihres Fehlers und sogar mit Tröstungen verschonte: seine Ehrfurcht gegen ihre trauernde Uneigennützigkeit untersagte seinem unschuldigsten Eigennutze, dieser einen Vorwurf zu machen; aber sie verbot aus denselben Gründen ihrem Eigennutze, einem solchen Vorwurfe auszuweichen.

Auf die schwache Stelle des Herzens wie des Körpers werfen sich alle andre Krankheitsmaterien: sein Zweifel nahm jetzt so zu, daß er endlich nicht sowohl glaubte, daß der Kummer ihre Liebe verschatte, als daß sie gar keine habe, sondern nur Dankbarkeit. »Denn«, sagt' er, »warum kann sie ihn bezwingen und unter ein Lächeln gefangen nehmen, wenn sie in fremden Gesellschaften ist, oder warum stört er sie in ihren kleinen Geschäften nicht?« - Bei ihm fielen alle Strahlen durch zwei untereinandergestellte Brenngläser, durch den Kopf und das Herz, und zündeten und brachten in Fluß und verkalkten: so war auch seine Liebe; und so sollte (verlangt' er) die seiner Adeline sein, und diese sanfte Luna, die er beschien, sollte unter dem erhabnen Glase der Liebe statt des Lichtpunktes einen Brennpunkt bekommen. Sie sollte jetzt - sonst hatt' er nicht daran gedacht - heftig, beredt, dichterisch, enthusiastisch sein in der Liebe, sie, die überall nichts war als geduldig und gut, und die statt der Zunge nichts hatte als ein Herz, statt der Flügel nur ein helles Auge, dem fremden Schwunge nachzusehen. Gleich den Lichtmagneten sog er alle Arten von Glanz und Lichtern ein, nur kein sanftes Mondlicht; aber Adelinen hatte der Himmel als eine Vase von Volterra-Alabaster in das Leben gehangen, deren Lampe durch das durchsichtige Gehäuse nur in Mondlicht überquillt.

Die männliche Eitelkeit kann überhaupt leichter als das männliche Herz die weibliche Liebe ahnden, und jene präsumiert mehr, als dieses errät; aber am schlimmsten spielen wir jenen stillen Weiberseelen mit, deren Wärme sich nur durch Erdulden der Kälte, deren Liebe sich nur durch Treue offenbart und die dem Brunnen in der Baumannshöhle gleichen, welcher sich, wenn man aus ihm schöpft, immer wieder füllt und der doch niemals überfließt. Ihr Wert blüht erst nach den Flitterwochen, und man muß sie heiraten, um sie zu lieben. - Lismore wollte aber umgekehrt lieben, um zu heiraten. Juliens Leiche hatte sich ohnehin zwischen die trunknen, lyrischen Blicke und Tage des ersten Findens der Seelen gestellt: jetzt war ihm nach seiner Meinung noch wenig mehr von der Epopöe und lyrischen Blumenlese der Liebe übrig: das Hochzeitkarmen der Flitterwochen geht dann endlich in Hübners Reim-Register über, bis zuletzt, wenige poetische Floskeln und prosaische Freiheiten ausgenommen, Mann und Weib nichts weiter schreiben als einen abscheulichen, welken Kanzleistil.

Das Betragen des Grafen ist vielleicht der deutlichste Beweis, wie wenig noch der Grundsatz, selber unter guten Köpfen, gemein ist, daß der Staat die Ehe eben einsetzt, um die Eheleute zu trennen. Die Absondrung der zwei Geschlechter war guten Gesetzgebern von jeher so wichtig wie dem Moses die Absondrung der Juden von andern Völkern; aber wenn Moses diese (nach Michaelis) am besten durch das Verbot der Speisen, die andre Völker liebten, und durch die Verbote ähnlicher Sitten erhielt: so konnte hingegen, wenn das Kopulieren etwas zur Entfernung eines Paares wirken sollte, es nur dadurch geschehen, daß man dieses zum immerwährenden Beisammenwohnen, Beisammenessen usw. anhielt, und dieser Gemeinschaft haben wir vielleicht alle noch übrige Gleichgültigkeit der beiden Geschlechter zu danken. Daher gibt man sich beim Altare die Hände zum Zeichen des Streits, wie in England die Leute sie erst einander schütteln, ehe sie sich nachher damit boxen; und das Umarmen ist vielleicht aus Italien entlehnt, wo die Umarmung der Duellanten unter die 200 Bedingungen gehört, unter denen sie sich schlagen dürfen: wird die Ehe geschieden, so ists auch meistens um die alte Gleichgültigkeit der Eheleute getan, und man muß sie oft zum zweiten Male kopulieren, um sie wieder auseinanderzubringen. Durch die Gemeinschaft des Namens, die sie Verwandten ähnlich setzt, wird zu einer gewissen Uneinigkeit, wie sie zwischen Blutsfreunden herrscht, immer ein wenig ermuntert, wie sich die Fürsten untereinander, ohne Nachteil ihrer Kriege, Verwandten-Namen geben. Der Staat sollte daher den höhern Personen die physische Trennung, die immer auf Kosten der moralischen geschieht, verbieten und nie verstatten, daß der Mann seinen eignen Haus-Flügel, Tisch, Klub usw. habe und die Frau ihren, so wie unter den Pflanzen nur die wenigsten, z. B. die Kürbisarten, getrennt und auf abgesonderten Stengeln sitzende Geschlechter haben.

Lismores Glück zerfiel allmählich - er konnte bald alles nur heftig tun, keine Hand mehr drücken, sondern nur quetschen - lange und schweigend anblicken und dann zweierlei tun: auf dem Eise des Clide-Flusses den schneidenden Winden entgegenfahren, oder statt der physischen Kälte sich mit der philosophischen kühlen und die trockenste Politik studieren. Die Wirbel und Strudel des Bluts besänftigt oft ein Kompendium des Lehnrechts oder der Metaphysik am ersten, wie ich einen Hypochondristen gekannt, der auf der Folterbank seines Trübsinns entweder Youngs Nachtgedanken oder die Reichsgeschichte von Häberlin las. Die schönsten Akkorde von Adelinens Liebe verkehrte sein innres Ohrenbrausen in die große Septime und kleine Sekunde: z. B. da er sie einst um einige Haare bat, für einen Ring, glaub' ich, und da sie ihm mit schöner Zärtlichkeit die eine Locke ihrer Mutter gab: so sah' er in dieser schmeichelhaften Erbteilung des mütterlichen Nachlasses fast nichts als die Einkleidung ihres Versagens. Ach! der böse Geist, der sich zwischen das Umfassen ihrer Seelen drängte, bedeckte alles, was den Grafen beglückt hätte, mit einem Schatten, daß er nicht erriet, wie Adeline aus dem lebendigen Zeitungskomptoire Gladusens sich nur mit Zeitungsartikeln über ihn versah, über seine Jugend, seine Freunde, seine Leibgerichte - wie sie, der bittersten Erinnerungen ungeachtet, am liebsten über den Zeitabschnitt der Revolution zuhörte, wo seine taten- und ruhmdurstige Seele ihren Durst gelöscht hatte - wie sie oft durch einen alten Saal ging, bloß um seinen Stammbaum zu sehn und um ihre Angst wegen seines Schlittschuhlaufens mit einem Blicke über den Clide-Fluß hinauf zu mildern. - -

Endlich ging ein Tag auf, wo das Schicksal, ich weiß nicht, ob das Labyrinth oder den Faden, der hinein- und hinausführte, verlängerte. Lismore hatte sie nämlich bisher mit dem voll Gewitter hängenden Märznebel seines liebenden Skeptizismus verschont, weil sie ohnehin - trübe genug war, weil sie ohne Farbe und ohne Kräfte war, weil der Kummer ihren zarten, siechen Körper unter das Opfertor zu führen drohte: der Graf hätte lieber verzweifelt als gesprochen. Aber jetzt, da eine Gesundheitsreise nötig war, um den Herbstwind ihres Lebens gleichsam wieder zu den Frühlingslüften umzuwenden, konnt' er leichter auf einer Lustfahrt, die ich in der folgenden Belustigung zeichne, sein ganzes, volles Herz aufdecken.

Die zweite Reise, die er nach dieser machen wollte, war eine zu Pferde nach London, um sich zwei unentbehrliche alte Freunde zu holen: erstlich den Arzt, damit dieser die fallende Blume vom Mehl- und Honigtau giftig-süßer Tränen befreie, und zweitens den Bräutigam seiner Schwester, der nunmehr den süßen Schlaftrunk der Londner Winterlustbarkeiten ausgeleert und ausgeschlafen haben muß und dessen heitre, gefühlvolle und gewandte Seele (hofft er) für ihn und Adeline die geistigen Rezepte zusammensetzen wird, die den pharmazeutischen des Doktors nachhelfen.

Sechste biographische Belustigung

Der Vor-Frühling - Echo-Dreiklang - der Honig-Essig der Widersprüche der Liebe - unsre Armut an Liebe

Der Graf hatte bei Rosneath ein Landgut, dessen Nachbarschaft durch das Echo zu einer Äols-Harfe besaitet ist. Ich wünschte, jeder Leser hätte eine Reise dort vorbei gemacht und das Echo genötigt, ihm zu antworten, antiphonierend aus dem zweiten Chore. Ich versichre jeden, seitdem ich dieses Echo aus den Abendstunden der Madame Genlis kenne, so hab' ich den Kopf zurückgelehnt und die Augen zugemacht - wenn gerade mein Gehirn unter dem Gehirnbohrer der Migräne stand -, um dasselbe gleichsam in die Blumenketten der Phantasie wie in einen Verband zu legen und dem schottischen Nachhalle im Nachhalle meines Kopfes zuzuhören. Es ist nämlich keine gemeine Echo-Repetier-Uhr, wie dergleichen zu Dutzend in den Wäldern stehen: sondern über einen See, den Berge ummauern, wird ein Stück hinübergeblasen, das ein unsichtbares, mit drei Stimmen besetztes Chor dreimal wiederholt - das erstemal schwimmen die Laute wieder zurück, aber in einem tiefern Tone - dann regt sich ein zweites Echo und lallt es wieder nach, aber noch um einen tiefer - endlich redet ein drittes im tiefsten mit dem bezauberten Herzen, und die Wellen des Hauchs glätten sich wieder, und der dreifache Himmel, der sich nacheinander auftat und die Seele in sich zog, ist wieder bewölkt.

Der Graf hatte nur auf den Abschied des Winters gewartet, um auf diesen Landsitz der Nymphe Echo mit einem weiblichen Herzen zu gehen, worin sich ein ähnlicher Nachhall der Molltöne des Menschen und der melodischen Fortschreitung der großen Schöpfung versteckte. Wider die Gewohnheit des Klima hatte schon der 20ste März, der Frühlingsanfang, den ganzen Winter, wenigstens auf einige Tage, ausgezogen und die zusammengelegte Schnee-Envelope oben an die Bergspitzen gehangen oder in die Täler-Schubfächer versteckt. Unter der ganzen Reise hob Lismores Brust noch etwas Allmächtigers als der Frühling - das Vorgefühl des Frühlings. Der poetische Frühling bricht noch früher an als der astronomische, der nur ein mehr blumiger, kühler Sommer ist. Die warmen Tage des Februars brüten die Mücken und unsre Hoffnungen aus dem traumlosen Winterschlafe aus. Unsre versperrte Seele tritt wieder, wie die beschienenen Bienen, schwärmend auf das übersonnte Flugbrett heraus und wirft jugendliche Blicke in die auferstehende Natur. Jeder Tritt verschließt eine mit fetterem Grün bezeichnete Quelle, und die grünen Lebenslinien der Fußsteige, die mit ihrem frühen Grase die entfärbten, eingerunzelten Auen durchschneiden, rastrieren uns gleichsam die mühseligen Gänge des Winters, die Reiseroute trüber Tage vor. - Und gar der März - der ist mein Mai! Der Märzenstaub ist der ökonomischen und der dichterischen Fruchtbarkeit gleich vorteilhaft; dieser Staub ist poetischer Blumenstaub, der bloß aus Keimen von Blumen besteht, oder Schmetterlingsstaub, der bloß das unsichtbare Gefieder an Psychens Schwingen ist. Wahrlich, wenn ich das ganze Jahr an kein Büchermachen dächte: im März müßt' ich mich setzen und einige wenige schreiben. - -

Der Tag, dessen Abend ein Nachhall beschließen sollte, gehörte unter die wenigen ewigen, die Lismore hier hatte. Der Frühling hauchte mit seinem warmen Atem, mit dem Mittagslüftchen, die Saaten an, und der grüne Wuchs des Winters stand aufgedeckt in herunterrinnendem Schnee, und vor der lauen Sonne zerflossen die Gärten in üppige Freuden- und Rebentropfen - und dem Menschen war, als müßt' er sich an die wiederkommende Mutter, die Erde, trunken und mit Kindesarmen hängen. - An einem solchen Auferstehungstage der Natur kehrten alle Träume und Prospekte seiner Jugend wieder zurück in die verödete Brust und die Sehnsucht nach weiten Reisen und die Hoffnung eines tatenreichen Lebens und der - Glaube an Liebe. Er sah gerührt Adelinen an und dachte: ja nach einem so langen Schweigen, nach einer so geduldigen Teilnahme, an einem solchen Tage, wo das Echo mich und sie an das erste Echo erinnert, das unsre Seelen verband, ja da darf ich schon ihre Hand nehmen und sie fragen: »Kennst du denn keine Hand, die dein Auge trocknen kann? Fassest du meine liebende Seele nicht? Liebst du mich nicht unaussprechlich wie ich dich?« - Wenn ihn die an den Scheiben klebenden großen Mücken, die die kühle Nacht zerstört, und das mit gelben Spitzen durchzogne Grün und der magere Halbschatten der skelettierten Bäume und das schneidende, kaltwehende Vorbeigehen des Winters in den Wäldern, wenn alles dieses zu lange Schatten über seinen innern Frühling warf: so schauete er von der kotigen Erde auf zum reinen, blauen Himmel, der ewig mit demselben Angesichte die wandelbaren Menschen im Sommerabend und in der Winternacht ansieht, und auf zur triumphierenden Lerche, die aus blühenden Auen herkömmt und die als der Zeuge unsers vorigen frohen Frühlings, als Chorist alter Frühlingschöre über uns schwebt und die den ewigen Geburtstag der Erde besingt..... Und dann flatterte ja das warme, surrende Lüftchen aus Süden ans Ohr und lispelte, sich auf der Locke wiegend: »Ich flieg' aus Blüten her - ich habe eben mit den Blättern der Myrte, mit der Blüte der Zitrone und mit dem Busengefieder der Nachtigall gespielt und habe einer Göttin das Lockenhaar nachgetragen und es auf die Schulter ihres Geliebten gelegt und bin vorausgeflogen, um dem langsam durch Waldwasser und über Berge schreitenden Frühling vorzueilen.«

- Und was dachte und sagte die gute Adeline in diesen kurzen Wonnestunden aus unserm Lebens-Wonne-Monat, das hier nur 28 Tage hat und nicht, wie die Donnermonate, 31? - Sie sagte zu ihm: »er solle sich nicht an ihre Miene kehren: sie sei in ihrem Herzen recht froh; und werd' es heute immer mehr werden.« - Woran sie dachte? Den ganzen Weg an ihre Mutter, ohne die sie einsam in den ersten Frühling trat; aber der Trauer war durch die Gegenwart ihres Bräutigams poetische Süßigkeit erteilt. Die treue Tochter hielt wirklich den kindlichen Gram für bloße Beklommenheit über die auf den Trümmern eines alten Frühlings in Grab und Wiege abgeteilte Natur. - Da sie mit Leolin mittags unter der Haustüre einer schottischen Bauernhöhle nach Süden blickte und an den Neujahrswunsch dachte, und als sie einen lange bekämpften, vom Auge auf die Wange gefallnen Tropfen nicht verwischen konnte: zeigte sie, eilig weggehend, hinauf und sagte: »Die Dächer tropfen, aber ich muß mir nach einem Tropfen allezeit das ganze Gesicht abwaschen« und tat es auch.

Je mehr der Tag und die Reise dem Ende näher kam: desto höher drang in Lismores Brust eine warme Quelle auf, diese bisher bald strömende, bald stockende Hungersquelle von Tränen, und ging über Eisenadern und füllte seine ganze Brust. Ach! sagte ihm denn nicht jede drängende Blutwoge, jeder sehnsüchtige Atemzug, jeder Lerchenton, jedes verirrte Lüftchen, sagte nicht alles zum bangen Menschen: »Gedulde dich, beklommne Seele, der schöne Frühling wird kommen und dich trösten und sie auch: ach! es fehlt dir nichts als der Frühling«? - - So betört sich der hiesige Mensch, die dunkle Figur auf einem Nachtstück, und jeden Winter sagt er zu sich: »Ach! es fehlt mir nichts als der Frühling.« - -

Abends erreichten beide in der Glorie der Sonne, vom weißen Milchflor ihres Glanzes verhangen, das Landgut. Er wollte sie mit dem Schwanengesange des Echo überraschen und schlug ihr, unter dem Vorwande des schönen Abends, vor, das sogenannte Wasserhaus am See zu besuchen, das nicht mehr als zwei durch eine Glastüre gesonderte Zimmer hatte, eines gegen den Nachhall und Abend, eines gegen Morgen. Er hatte einen Waldhornisten mitgenommen, der auf eine weit in den See wachsende Landspitze treten und das hinter Gebirgen ruhende Echo wie eine Nachtigall, welche Musik hört, zum Schlagen reizen sollte; und es war ihm nicht unlieb, daß die Musik noch nicht anfing. die ganze Erde war ja voll Echo und voll Spiegel, und in jedem Gedanken war ein dreifacher Widerhall des verklungnen Lebens. Er öffnete die Fenster gegen den See, auf dem ein zweiter aus Luftwogen stand, der mit einer wärmern und leisern Brandung über die Fensterbrüstung hineinspülte - und drüben auf den Bergen brannte die Abendsonne wie ein Opferfeuer auf, und ein goldner Rauch zog aus dem Brande um alle Gewässer und Gebirge. Da seine stumme Freundin in die von der Erde an den Himmel gelehnte purpurne Rauchsäule kam, worin einige schlaftrunkne, taube Mücken so lange schwankten und sichtbar blieben, als sie nicht über die Grenzen des lichten Dunstes schweiften, und da die Sonne und das Abendrot ihre bleiche Gestalt zu einer blühenden umschufen aus Glanz und Rosenduft, und da ihre Finger, womit sie sich das geblendete Auge verdeckte, durchsichtig und rosenrot wie Aurorens ihre waren: so kam sie ihrem Freunde wie ein Seraph vor, der an einem großen Frühlingsmorgen auf dem Morgenrote kniet und seine Entzückungen oder Gebete zur Sonne aufschickt und dem der Widerschein des unter ihm glühenden Gewölks und seiner glühenden Seele die Wangen überdeckt. Er mußte jetzt daran denken, wie die Sonne ewig ein jugendlich-glühendes Angesicht auf die Erde richte, indes ein Menschengeschlecht ums andre erblasse vor ihr - wie sie uns gleich diesen Mücken aus unserm Winterschlaf treibe, und wenn sie wieder scheint, sind wir gleich ihnen erfroren. - -

»Wende nicht dein bleiches Angesicht,« (sagt' er innerlich) »du kummervolle Tochter, weg von der Abendsonne - deine flüchtige Vergoldung fällt ab, und du wirst die Erblaßte, die du so lange betrauerst!« - Aber die Sonne ging unter, und Adeline wurde bleich, und da sie sich mit der Blässe, die durch ihre Reise zugenommen hatte, gegen ihn kehrte, weil sie ihn jetzt erst ungeblendet sehen konnte, und da er, der kein zweites Leben glaubte, jetzt mitleidig bedachte, wie diese gute Seele kaum ein erstes genieße: so schwuren alle seine Gedanken in ihm, sie heute mit keinem verklagenden Laute zu kränken - alle Wünsche und Träume dieses guten Herzens schweigend zu dulden - und sich immerfort vorzusagen: »Sieh nur, wie sie leidet, und wie sie gelitten hat - vergilt ihr die überschwengliche Liebe gegen eine, die nicht mehr liebt, nur mit überschwenglicher Liebe und nicht mit Groll. Ach! kennst du die Klagen ihres künftigen Lebens, auf dem die Zukunft wie eine Pechwolke ruht, und kannst du wissen, eh' die Wolke aufzieht, was sie bedeckt, Lustgärten oder Kirchhöfe und Marterkammern?«

Seine Seele glitt allezeit an einer Schlußkette von Vorsätzen so heftig und eilig herab, daß die Hand, womit er sie faßte, brannte und blutete und daß dann das letzte Glied seiner Entschlüsse das Gegenteil des ersten wurde: so hörte jetzt sein Vorsatz, ihrer zu schonen, mit einer gefühlvollen Überströmung seines Mitleids auf, die jenem widersprach. Er sagte, da eine Lerche mit Frühlingstönen in der Abendröte hing, zu Adelinen: »Freue dich doch mehr, Teuerste! Siehe nur, wie schnell das kleine Leben vorüberrinnt, eh' man kaum zwei frohe Tage, zwei Freudenbecher daraus geschöpft hat! Ist dir nicht das Gerippe der verfallnen Natur an jedem Herbst, an jedem Abend eine ägyptische Mumie, die uns zögernde Menschen ermahnt zu einem schnellern Umfangen des wegschlüpfenden Lebens? - Ahme mich nach: wahrlich, mich stören die Winde und Erdbeben des Lebens so wenig wie eine Sonnenfinsternis - nur gegen etwas fänd' ich keinen Trost: wenn du mich nicht liebtest.« - »O bester Leolin! nur nicht so, wenn ich froh bleiben soll.« Er antwortete schnell: »Ach! du bist glücklicher als ich, ich finde alles eher auf der Erde, sogar Wahrheit und Freude, als Freundschaft! - Ach! ich sah im Traume meiner Jugend einmal ihren glänzenden Tempel stehen, wie David im Schlafe den salomonischen, und ich bin mit dem flatternden Luftschlosse in meiner Brust durch die Erde gegangen und habe unter den Menschen ihren Tempel gesucht! - Ach, Adeline! - Gib mir deine Hand und führe mich hinein und sage nur etwas, das mich tröstet.«

Sie konnte nichts sagen, und ihr aufgehobnes Auge voll furchtsamer Liebe war ihm nicht genug. Sooft er gleich der herrlichen Diptam-Blume zugleich blühte und brannte, jenes mit der Phantasie, dieses mit dem Herzen: so konnte Adeline, von seinen Ergießungen fortgerissen und untergetaucht, keine Worte finden, die er doch foderte, und seine Beredsamkeit erschuf ihre Sprachlosigkeit. Ach! zuweilen glaubte er dieses weibliche Herz nicht bewegt, weil das Zittern seiner feinen Saiten unsichtbar war, da ihre Töne höher sind. Ja, jede Träne, jeder Laut, womit sie ihm antwortete, fiel wie ein neuer Strom in seinen, und seine größere Entzückung wollte wieder durch eine fremde übertroffen sein, und so konnte man nie sein Herz erwidern. Aber selten konnt' er die bescheidne Seele über die Schranken des sprachlosen Genusses ziehen: wie ein höherer Priester sprach er ihr im Tempel der Natur die Morgenandachten vor, und sie sagte sie mit gesenktem Haupte nur im Herzen nach.

- Jetzt als sich der bunte Sonnenschirm des Himmels voll Abendrot dämmernd ausspannte und als auf der Erde nichts mehr lag als Rot und Nacht: so erhob sich die Musik, und die Töne glitten wie Wellen über den rötlich nachglimmenden See an die Berge hinüber, über welche wie über Wirbel die nachzitternden Saiten des Echo aufgezogen waren.

Aber Lismore fuhr, aus Vergessen oder Empfindung der Musik, noch heftiger fort: »Nein, zwischen zwei Seelen, die sich einander die Arme öffnen, liegt gar zu viel, so viele Jahre, so viele Menschen, zuweilen ein Sarg und allezeit zwei Körper. Hinter Nebeln erscheinen wir einander - rufen einander beim Namen - und eh' wir uns finden, sind wir begraben. Und wenn man sich findet, ists denn der Mühe, des Namens der Liebe wert, die paar glühenden Worte, unsre kurzen Umarmungen? - Vom Morgenrot der Jugend glühet uns der Eisberg der Menschenfreundschaft lügend an, aber in der Nähe erfriert man an ihm, oder man zerschmelzt ihn mit seiner Wärme - wahrlich, die Menschen dulden keine Wärme; ach! wie oft ergriff ich die Hand eines Geliebten und wollt' ihn an meine Seele ziehen, aber die Hand riß ab, der Samielwind hatte dem morschen Toten nur eine schlummernde Gestalt gelassen. - - Aber wie himmlisch fließen die Töne über die Wellen! - Morgen hab' ich sie doch vergessen. - Und so spiegelt jedes Gefühl und jede Liebe uns eine erlogne Ewigkeit vor: ein Scherz, ein Schlaf, eine verlorne Unze Blut, ach! eine Stunde erwürgt die Liebe. So steht überall und überall, wo eine Menschenbrust an der andern liegt, die Zeit und schiebt sie auseinander wie Marmorplatten, weil sie sie nicht auseinanderreißen kann.« - -

Die Musik tönte aus. - »Ach, Adeline! ich habe gewiß nicht recht.« - »Gewiß nicht!« (sagte sie sanft) »ich konnte noch niemand vergessen.«

Nun wurde drüben hinter den Bergen der unsichtbare Geist der Natur rege und wach und ergriff allmächtig die gestorbnen Töne und gab ihnen ein zweites, zitterndes Leben - und das ganze hinübergehauchte Lied kehrte entkörpert und ätherisch und leise zu den Liebenden zurück. Adeline deckte jetzt mit der Hand das rechte, kränkere Auge zu, weil aus ihm allemal die Tränen früher flossen, und ihre holde Seele erblickte, in der Wiege der Echo ruhend, die Arme ihrer Mutter über sich aufgetan - ein Engel hing, gleichsam von den wehenden Tönen gehalten, mit aufgeschlagnen Flügeln am roten Abendgewölke und zeichnete darauf die schönere Paradieseszeit, wo sie noch um ihre Eltern war - den hellen Morgen, wo sie ihrer Mutter in einer langen Umarmung das Versprechen der ersten Liebe gab - den beglückten Abend, wo sie es unter dem Lautenzug eines ähnlichen Echo erfüllte. - Ach! aber durch wie viele Tränentage mußte der Glanz dieser frohen Stunden fallen und wurde darin gebrochen und verschluckt! -

Jetzt schwieg alles! - Nun stieg das zweite Echo auf, dunkler und tiefer, wie aus einer liegenden Brust. - Da rief alles in Adelinens Seele: »Es ist die Mutter - ja, deine Julie redet dich an« - und nun stürzten Träne an Träne aus dem gesunden, linken Auge, und sie verhüllte keine mehr. Sie lehnte sich an ihren Geliebten - ihre Zähren sanken den Schatten-Tönen auf die Erde nach - das vom Nachtflor umwundne, gedämpfte Trauerinstrument häufte den Druck aller teuern Gräber auf ein zerschmolznes Herz, und es mußte ganz verbluten....

Ach! in ihrem Herzen standen allezeit mehr Tränen als in ihren Augen. - Der zweite tönende Traum war vorüber. Siehe da wühlte sich dumpf und fern der dritte Nachhall auf, wie aus einem Busen, den ein Erdbeben eingesenkt... »Wimmernde, tiefe Stimme! welches dicke Grab bedeckt dich so sehr? - Blutiger Ton! warum durchschneidest du mit deinem unsichtbaren Schwert die Seele? - Jammernder, auf Nächte gemalter Schatte! wer bist du?« - »Ich bin dein enthaupteter Vater, und ich jammere in der Grube noch über mich und dich.«...

- Unglückliche Tochter! schaue an den blühenden Himmel! Eine graue Wolke hat sich aufgeworfen wie ein Grab - und hundert Rosen aus Abendrot brennen auf dem dunkeln Hügel. Deine Mutter schläft darin mit der Rose, die du ihr gegeben, und mit dem bleichen Haupte, das du zuletzt geschmückt..... Adeline blickte gen Himmel und fand einen Trost, und die Stimme des zertrümmerten Vaters verstummte; aber ihr Herz, das zerrinnend sich mit den Tränen vermischte, tropfte gleichsam vom Leben weg - und sie wandte das blaß-rote, geschwollne Angesicht plötzlich ab von den malenden Wolken und von den tönenden Bergen und kehrt' es lieber aufgehoben und mit weiten Augen und mit allen seinen weinenden Blicken und Zügen gegen ihren Freund und sagte in grenzenlosem Schmerz: »Ich kann ja meine Eltern nicht vergessen, Leolin! - meine Mutter muß doch in meinem Herzen bleiben. - O! trösten Sie mich gern und oft, aber lassen Sie mich auch recht weinen.« -

Trostlose! ich würde dir keinen Trost sagen. Welchen könnt' ich denn einer Tochter geben, die die erste und letzte Freundin ihres schweren Lebens verloren und für die nun das beste Schicksal nichts mehr hat als Freunde? Kann ich euch Verwaiseten denn aus allen Ecken der Erde irgendein Herz zuführen, das euch so sehr wie das, das in ihr ruht, und so zärtlich und so uneigennützig und so lange liebte? O! wenn ihr die unvergeßliche Lehrerin und Mittlerin und den Schutzengel eurer Jugend begraben habt, wenn sich die Brust, aus der ihr den ersten Nektar des Lebens nahmt, erkaltet nicht mehr für euch bewegt, welche zweite kann ich euch auf der weiten Erde anzeigen, die ebenso warm schlägt und an der ihr ebenso sicher alle Geheimnisse und Seufzer der eurigen in sanfter Umarmung verhauchen dürft? - Nein, es gibt keine - und o! wenn eine solche Verwaisete mich gerade am Geburts- oder Todestage ihrer Mutter läse, sie würde mit ihren Augen voll Tränen gar nicht bis hieher gekommen sein, sie hätte längst ohne mich gesagt: Nein, ich kann nicht getröstet werden! - -

Lismore drückte, überwältigt vom erhabnen, treuen Gram der besten Tochter, ihr fallendes Haupt weinend an sein Herz, und er legte um dasselbe die Arme schwebend, um sie gegen die bald wiederkehrenden Töne taub zu machen, und sagte: »Engel! wer könnte dich einmal würdig betrauern? - Du hast ja einen Schmerz, als wärst du eine Unsterbliche. - Ach! ich sah' das nicht voraus - das Echo sollte dich bloß an ein schöneres erinnern und dich nicht so traurig machen.«

»Sie weinen ja auch, Guter!« sagte sie.

»Ja, und um dich, um dein himmlisches Herz - und um deine gute Mutter, die eine solche Tochter wie dich verlor.« - - »O mein Teuerster!« sagte sie warm, »ich und Sie haben mehr verloren - ach! Sie kennen Ihre Freundin nur halb«, und hier richtete sie ihr himmlisches Angesicht mit einer beredten Miene voll Nachrichten zum teuern Genossen ihrer Seufzer, zum Liebling ihrer Mutter auf. Was sie meinte, war jenes gelinde mütterliche Eindringen in ihre Brust, das ihr an jenem Tage, wo das Echo bei Genetay ihr Herz an ein zweites schloß, alle für Lismore vorteilhaften Geheimnisse ablockte oder einpflanzte. Lismore quälte sie nun mit fieberhafter Innigkeit um die Vollendung ihres Bekenntnisses - er beschwor sie bei dem Grabe ihrer Mutter, diese durch die Enthüllung eines Geheimnisses zu ehren, das sich als ein neuer Kranz um ihr Gedächtnis lege - -: und die Arme deckte ihm im heutigen Taumel ihrer Trauer ihr von der neuen Flut eines Echo fortgeführtes Herz und das Geheimnis des mütterlichen Anteils an ihrer Liebe auf. Aber in ihrem jungfräulichen Munde klang es, als sei die abendliche Hingabe ihrer Seele am meisten - der morgendlichen Unterredung zuzuschreiben...

Hier fuhr sein heißes Herz gerinnend zusammen, wie von eingesprützten, kalten Giften zersetzt: - »Hab' ichs nicht längst erraten,« (sagte eine Stimme in ihm) »sie liebt dich nicht, sie gibt dir nur aus Gehorsam gegen die tote Mutter die Hand« - aber die Wellen der heutigen Liebe und Entzückung liefen, wie bei Wechselwinden, streitend den Wellen des zweiten Sturms entgegen - und er blickte die schöne, leidende Gestalt voll unaussprechlicher Liebe an, und dann dacht' er: »Ich will mich nur noch heute täuschen«, und erhaben wie ein unglücklicher Gott, sank er gleichsam scheidend mit verschloßnen Augen, ohne Sprache und voll Tränen an die, die er zu verlieren besorgte: denn er suchte den Zweifel an ihrer Liebe durch das Übermaß der seinigen zu überwältigen. Gute Adeline! du errietest nicht, daß er darum mit Tränen deine Wangen übergoß, weil er in der schmerzlichen Umarmung zu sich sagte: »Ist denn das meine Geliebte? Ruh' ich schon an dem Herzen, das ich ewig suche? - O Himmlische! wenn du nicht hier bist, der ich angehöre, wenn einmal meine verwundete Seele an deiner ausheilt, dann will ich dirs sagen, ich habe heute an dich gedacht.... Ach! du arme Adeline, ich tue dir doch unrecht, wenn du mich auch nicht liebst.« - Und er riß sich von ihrem Angesichte, wie sich eine blühende Seele vom Leben reißet: er warf sich vor sie hin und blickte in ihr erschrocknes Angesicht und sagte bebend und erstickt: »Adeline! liebe mich ohne Maß, wie ich dich! - Gib mir ein Zeichen, wenn du mich nur deiner Mutter wegen liebst!« Aber er legte, um kein Zeichen zu sehen, sein Haupt auf ihren Schoß, und sie breitete ihre Hände sanft unter sein brennendes, nasses, verhülltes Angesicht. Er hob es noch einmal schwer empor und blickte zu ihr auf wie ein sterbender Engel und stammelte: »Sieh, wie ich liebe - ich würde jetzt sterben, wenn du mir das Zeichen gäbest.« Da sank ihr Haupt wie eine Lilie gebrochen seinem entgegen, und ihre Tränen fielen auf seine Lippen nieder, und ihre herüberfallenden Locken hüllten den heißen Kuß voll Schmerzen ein....

Als nach einer stummen Minute voll wundem Entzücken die zwei Erschöpften das Theater des Trauer- und Schattenspiels verließen: war alles verstummt, ausgenommen einige Wellen am Ufer - die Phönixasche unsrer Freude, die Musik, war verweht, und kein Echo sammelte die Trümmer der Töne mehr - der Abendhimmel war, wie Adeline, bleich geworden - der Frühling legte den Rand der Nacht noch nicht in Mattgold ein, und der Mond hing noch tief unter der silbernen Pforte des Aufgangs - schweigend gingen beide zurück - sie scheuchten eine schlummernde Lerche auf, aber sie stieg, ohne zu singen - und als sie nachts voneinander gingen, sahen sie sich weinend an, aber sie küßten sich nicht......

- Die Menschen sind einsam. Wie Tote stehen sie nebeneinander auf einem Kirchhofe, jeder allein, ganz kalt, mit geballter Hand, die sich nicht öffnet und ausstreckt, um eine fremde zu nehmen. Nicht einmal ihr Körper hält das warme Sehnen nach Liebe aus, aber den Haß wohl; an jenem zerfällt er, sie sind Pflanzen aus einem kalten Klima, die den größten Frost, aber keine Hitze ausdauern.... Wie, glaubt ihr, ich meine die Millionen dumpfe, niedrige, hungrige Menschen, die gern in ihre Gräber zurückkriechen, ohne den Besitz nicht nur, auch ohne den Wunsch der Freundschaft und Liebe? - Ich meine sie nicht; in ihrer niedrigen, dem Kote parallelen Richtung können sie keine Seele zu sich ziehen; nur Menschen, wie nur Eisenstangen, die sich gegen den Himmel richten, werden magnetisch. - Aber diese mein' ich, Menschen wie Lismore. - Ach! daß gerade die bessern am wenigsten lieben, daß es ihnen so schwer wird, zu finden, noch schwerer, zu behalten, daß sie ein Jahrzehend brauchen, um einen Bund zu schließen, und eine Minute, um ihn zu brechen. - - Und dann veraltet der entblößte Mensch, ohne sein zweites Herz - die Jahre setzen um sein bestes Herzblut, wie um alten Wein, eine steinerne Rinde an - er heilet den liebenden Wahnsinn seines Kopfes und das verzehrende Fieber seiner Brust mit Eisstücken, wie die Ärzte Kopf und Brust mit aufgelegtem Eise herstellen - und wenn er in die andre Welt tritt, so muß er fragen: »Ewiger, warum gabst du mir ein glühendes Herz in die Erde mit: ich bringe es totenkalt zurück, es hat niemand geliebt.«... Ach! wenn diese Erde ein Gängelwagen für unsre ersten Schritte sein soll: so ist der Ring desselben, auf dem wir mit der Brust aufliegen, nicht weich genug gepolstert und schneidet zu tief ein. - - Doch so unglücklich sind wir nicht alle, und wer mich hier mit Schmerzen lieset - anstatt mit bloßer Sehnsucht -, der war wenigstens glücklich. Aber lasset uns jetzt in diesem russischen Eispalast der Erde, worin Statuen und Ofen von Eis sind, einander die Hände geben und uns vornehmen, noch öfter zu vergeben, als wir tun, noch öfter daran zu denken: daß wir ja aus so vielen tausend, tausend Herzen nur einige, verarmt, an unserm halten - daß unsre Jahre so kurz und schnell verstäuben, aus denen wir zur Liebe nichts ausheben als noch schnellere Minuten - daß unsre ersten zehn Jahre und vielleicht unsre letzten zehn ohnehin dem verwitterten Herzen die Liebe nehmen - und wie viel wir schon vergessen haben, wie manche glühende Stunde, wie viele heiße Versicherungen, und wie noch mehr wir schon verloren haben. - - Und wenn uns das nicht bessert: so lasset uns auf die Gräber unsrer vorigen Freunde treten und ohne Schamröte sagen: »Wir lieben sie«, indes wir die lebenden vergessen. - Ach! auf jenen Hügeln lernt der Mensch Freundschaft so gut wie Größe.

Satirischer Appendix

Vorrede zum satirischen Appendix,

oder Extrakt aus den Gerichtsakten des summarischen Verfahrens in Sachen der Leser, Klägern, contra Jean Paul, Beklagten, Satiren, Abhandlungen und Digressionen des letztern betreffend.

Ich habe den Extrakt, den ich hier mache, eigenhändig vidimieret, um ihn glaubwürdiger zu machen; es können aber zu jeder Stunde die Akten selber von beiden Parteien in meiner Stube, in Hof, nachgesehn werden.

Den ersten hujus reicht' ich bei der fürstlich scheerauischen Berghauptmannschaft - die ich bekanntlich bekleide - als Anwalt und Mandatarius meiner Herren und Frauen Mandanten und Mandantinnen, sämtlicher Leser und Leserinnen, das Klagelibell, das von so großen Folgen war, gegen den Verfasser der unsichtbaren Loge <../loge/loge.htm>, des Hesperus <../hesperus/hesperus.htm> und alles dessen ein, was der Mandatarius drucken lassen. Als ich einmal vor 13 Jahren las, daß ein Beklagter in der Schweiz, da er selber in der Zeit des Mähens keine hatte, vor Gericht zu erscheinen, seinen Kläger gebeten, an seiner Statt die nötigsten Einreden zu machen: so dacht' ich damals wohl nicht daran, daß ich einmal im nämlichen, obwohl umgekehrten Falle sein und von den Lesern als ihr eigner Anwalt gegen mich in Sachen, wo ich noch dazu selber richte, würde aufgestellt werden; es läßt sich darüber disputieren, wem ein solches Vertrauen mehr Ehre mache, den Klienten oder dem Patronus selber. Wem meine Triumvirats-Rolle auffällt, der ist noch mit wenigen Justitiarien (Gerichtshaltern) von Belang umgegangen: ein Gerichtshalter, der z. B. Vize-Re und Kommandeur über zwei Gerichtshaltereien ist, fertigt, wenn aus der einen ein Insaß in die andre vorzuladen ist, häufig ein Requisitorialschreiben an den Gerichtshalter der ersten aus - welches er selber ist -, wiewohl freilich weniger um den Kerl zu haben als die Gebühren. - Nun zum Extrakt des Libells!

»Es sei leider bekannt genug, wie der Büchermacher und Biograph in Hof, Jean Paul, bisher seine Leser und Käufer hintergangen, indem er unter seine Historien die längsten Satiren und Untersuchungen eingeschwärzt, so daß er, wie einige österreichische Fabriken, die inländische Ware nur darum zu machen geschienen, um die verbotne satirische damit zu emballieren und abzusetzen. Besagter Paul habe ferner oft Lesern ins Dampfbad der Rührung geführt und sogleich ins Kühlbad der frostigen Satire hinausgetrieben, da doch wenige darunter Russen wären, die es ausständen. Überhaupt schieb' er, anstatt, wie es einem guten Autor geziemt, dem Teufel nachzuahmen und nichts zu erregen als Leidenschaften, überhaupt schieb' er, wenn er sich auf einigen Bogen gut gestellt, sofort eine breite Satire oder Untersuchung unter dem böslichen Namen eines Extrablattes etc. als Ofenschirm zwischen die besten Kaminstücke und Freudenfeuer ein. Er mache sich dadurch unzählige Feinde. Klägere bekennen, sie wüßten nicht, wie überhaupt eine solche Zumutung mit ihren unter allen deutschen Regierungen bestätigten Freiheitsbriefen, die sie von allen Satiren lossprächen, es betreffe das Machen oder das Lesen oder das Fassen derselben, zu reimen sei und wie es damit bestehe, daß man ihnen ganze Kräuter- und Hopfensäcke voll satirischer Gewächse auflade. Habe der besagte Büchermacher aus Hof eine genugsame Anzahl Stachel- und andere Schriften beisammen und vorzusetzen: so komm' ihnen vor, er könne solche allezeit viel schicklicher in ein besondres, ehrlich betiteltes Buch aufscharren und aufschichten, damit Klägere, die Leser, nicht mit dergleichen Sachen für den Buchhändler behelligt und belästigt würden.

Klägerischer Anwalt bitte daher, in Rechten zu erkennen und auszusprechen,

daß der Biograph Jean Paul in seinen künftigen Historien geradeaus wie ein Kernschuß zu gehen schuldig, ohne Anspielungen, ohne Reflexionen und mit Ernst ohne Spaß, überhaupt daß er unter dem Vortrage seiner biographischen Partitur hinter seinem Notenpult eine satirische Pantomime gegen sämtliche Zuhörerschaft zu ziehen sich ernstlich zu enthalten und alle diesfalls kausierten Schäden zu tragen verbunden.

Klägerischer Anwalt wolle übrigens mit keinem überflüssigen Beweise beladen sein, bedinge sich, daß seine Klage nicht für ein zierliches Libell, sondern für eine schlechte Erzählung angesehen werde, und habe keinen animum injuriandi desuper nobile.« -

Es ist ein Wunder, daß man von Gerichts wegen ein sonderbares Annexum, das ich noch an das Klaglibell anstieß, nicht von den Akten removiert hat. Es lautet völlig so:

»Niemand verdient wohl mehr, daß die Gesetze ihre Regen-, Donner- und Sonnenschirme über seinen Kopf ausspannen, als die S. T. Klägerinnen oder Leserinnen, die zu so vielen Leiden im Gethsemane-Garten geboren werden und zu so kurzer Gartenlust, mehr zu Werthers Leiden als Freuden, und die sich so oft zwischen dem scharfen Treibeis der männlichen Herzen blutig stoßen. Klägerischer Sachwalter hält es für unschicklich, in einem Klagschreiben es weiter auszuführen, wie viele Schwielen einer Leserin oft schon die Athleten-Hände von Verfassern drücken, die sie geheiratet hat, und wie unbillig es wäre, wenn vollends die übrigen, die sie nur kauft, es noch weit ärger machten, wenn es nicht genug wäre an den Schlägen des schweren Tiefhammers des Schicksals, an dem Pochwerke jeder Minute und so vieler Satansfäuste, sondern wenn noch die Schattenspiele an der Wand der Gehirnkammern, wenn die Schnee- und Strohmänner und alle Marionetten auf dem Druckpapier ihre kalten Schattenhände aufheben wollten gegen ein so oft verletztes, zwischen Wunden und Narben lebendes Geschlecht. In Büchern sollt' es nicht die Schmerzen wiederfinden, vor denen es aus dem äußern Leben in jene floh; und die Autoren sollten die Ältesten aus der Familie Baker1) sein, die diesen Königinnen bei der Überfahrt über den trüben Kanal ihrer Tage, vom neblichten Lande ins wärmere blaue, den Kopf, den Dornenkronen niederziehen, aufrecht halten. Satiren sind aber selber nur Girlanden aus Dornen.

Mandatarius muß gestehen, es ist seinen Mandantinnen äußerst unangenehm, daß der Büchermacher die beste Geschichte immer versalzt, verpfeffert und verwässert durch seine Manier, daß er sie oft erst nach zehn Prologen anfängt, daher viele, wie in London, erst beim dritten Akt in die Tragödie gehen, und daß man zu seiner Kirchenmusik erst durch lange Predigten zu waten hat. Anwalt geht jetzt die zwei Hauptmängel durch. Klägerinnen müssen es unter seinen philosophischen heiligen Kasualreden stets wie die Kantores machen, die unter der Predigt aus der Kirche gehen und zur Musik wiederkommen. Denn Mandantinnen halten es für Klugheit, seit Evas Trauerfalle, sich vom Giftbaum des Erkenntnisses, der so viele Blitzschläge auf die Erde lockt, so weit abzustellen, als seine Wurzeln laufen: die Kritik sitzt als Schlange droben zwischen den Ästen und rezensiert günstig und käuet unbedenklich das Obst, das den Magen einer Eva verdirbt. Es waltet freilich ein besondrer Glücksstern über Leserinnen ob, daß sie ihren Männern, die, gleich dem Teufel vor Einsiedlern, sich in so viele Gestalten - z. B. von Romanschreibern, Biographen, Taschenkalendermachern - bisher verkleidet haben, um sie in naturhistorische, geographische, astronomische etc. Hör- und Büchersäle nachzulocken, glücklicherweise niemals nachgegangen sind. Aber meistens nur Leserinnen aus den mittlern Ständen dürfen sagen, daß sie durch den Überzug mit Lumpen- und Rosenzucker, worin man bisher ihnen den Mißpickel und Fliegenstein der Wissenschaften versetzte, sich doch nicht haben reizen lassen, an den wissenschaftlichen Arsenik zu lecken, indes Weiber aus höhern Klassen häufig in die Arsenikhütten der Lehrgebäude zogen.

Satire dient ihnen nun vollends zu nichts als zum bessern Fortkommen im Buche, indem sie sie überblättern: denn bei den weiblichen Fehlern gilt das, was Unzer von den Hühneraugen sagt, daß jede Methode, sie zu vertreiben, unrichtig sei, sobald sie schmerzhaft ist. Sie haben längst ein Surrogat und einen Ersatz für die Satire, die mehr für Männer gehört, und das ist die Medisance, die den Weibern recht knapp und schön am innern Menschen anliegt, wie der alte Adam, unser allgemeiner Berghabit beim schmutzigen Einfahren ins goldreiche Leben. Klägerischer Mandatarius will hierüber nur einige Gedanken ausschweifungsweise, wie der Beklagte öfter tut, hinwerfen. Eine Leserin findet die Satire, die allezeit ganze Stände oder unzählige Menschen auf einmal herabsetzt, viel zu hart: sie weiß, mit einer bloßen Verleumdung fällt sie nur einen einzigen Menschen und ohne Witz und nur historisch an, und weiter ist Sanftmut nicht zu treiben. Die satirischen Pfefferkörner halten ferner, wie das süße Manna, sich nicht zwei Tage und werden leicht anbrüchig; so wie Boerhave von der Galle (der Essigmutter der Satiren) angemerkt, daß sie unter allen Feuchtigkeiten des menschlichen Körpers zuerst anfaule. Aber von mündlichen, kurzen Satiren, d. h. von Verleumdungen, kann man doch jede Stunde, wenn es die Besserung und der Vorteil des Nächsten begehrt, neue Lieferungen nachschießen, nicht bloß jede Stunde, in jeder Stube, in jedem Fenster, vor jedermann. Der Satiriker drückt meistens Wehrlose, Gebrechliche, Sünder und Toren und ist öffentlich parteiisch für Fromme und Weise; aber die Medisante ist unparteiisch gegen diese und zieht gerade aus klassischen Menschen die Druckfehler am ersten heraus, wie man nur für klassische Werke (z. B. die Messiade) einen Dukaten für den Fund eines Erratums aussetzt: hingegen lobt sie mit Pirchheimer das Podagra, mit Erasmo die Narrheit, mit Marcian den Rettich, mit Archippo den Eselsschatten und mit Bruno den Teufel. Von zwei verdächtigen Inkulpanten wird, wie Franziskus Vallesius sagt, der häßlichste zuerst gefoltert: das ist ferne von Medisanten, die stets unter zwei Frauen der schönsten zuerst die peinliche Frage zuerkennen, weil jede selber weiß und fühlt, wie viele Fehltritte ein schönes Füßchen tue und wie viel Fehlgriffe eine schöne Hand. -

Endlich ist sich auf echte Verleumdung mehr zu verlassen als auf Satire, die immer Leute malt, die nie gesessen. Beaumarchais hat aus einem Mantel, den er im Pantheon zu London gefunden, Alter, Füße, Reize, Taille, Neigungen der Eignerin prophetisch verraten: man gibt nun zu bedenken, was eine rechtschaffene Medisante zu erraten und zu beurteilen und zu verurteilen vermöge, wenn sie alles vor sich hat an der andern, nicht bloß den taftnen Mantel, sondern das ganze schwarze Ballkleid, alle Perlen, sogar die echten, die goldne Hemdnadel, die brillantierte Hutnadel, die Garnierung und das Brustbouquet und die Uhren und die Strumpfzwickel und die Rosette auf dem Schuh und kurz die ganze Frau! - - Wann nun Klägerinnen an der Dispensation und Steuerfreiheit von allen gedruckten Satiren sonderlich gelegen: also ergehet an die fürstlich scheerauische Berghauptmannschaft die Bitte, in Rechten zu erkennen und auszusprechen:

daß oft besagter Büchermacher und Biograph Jean Paul in Hof sich aller und jeder Satiren, wes Namens und Standes sie auch seien, in allen seinen Historienbüchern gänzlich zu enthalten habe. Desuperimplorando et ulteriora reservando.« -

Ich kann nicht weiter extrahieren, bevor ich in meinem eignen Namen noch einen Grund für echte Verleumdung beigebracht, der ungemein fruchtbar und selber scharfsinnig ist. In unsern Staaten werden nämlich nach und nach die Ehrenstrafen in Geldstrafen umgesetzt, dafür aber werden - denn sonst kämen wir endlich durch Abschaffung der Infamienstrafen um alle Ehre, die doch in Monarchien sitzen muß als Prinzip, wie Montesquieu schön bewiesen - die Geldprämien zu Ehrenzeichen erhoben, der Ehrensold zu Ehre, das Glückseligkeitssystem zu reiner Würde, von Kant, so daß freilich ein Mensch, der nicht viel im Vermögen hat, schlecht mit letzterem wegkömmt, es sei, daß er seine Ehre aufopfern will - denn er muß sie behalten und büßt noch Geld ein -, oder daß er etwas mit ihr vor sich bringen will - denn er bringt nichts mit ihr vor sich als sie selber. Die Strafen an der Ehre sind von unsern Zeiten besonders zwei verwandten Personen ganz erlassen worden, denen, die mit fremden Geldern, und denen, die mit ihren Reizen fallieren, d. h. Bankerottierern und Geschwächten. Beide wurden sonst meistens am Kopfe signiert. Ich hätte viele alte Juristen auf dem Tische vor mir, aus denen ichs jetzt schreiben könnte, wenn ich wollte und es nicht schon wüßte, daß sonst in Rom, Paris und Frankfurt am Main2) nicht nur die Bankerottierer, sondern auch Leute mit Moratorien und Quinquenellen grüne Hüte tragen mußten - in Sachsen aber gelbe, nicht zu gedenken des Gelbfärbens der Häuser, des Läutens der Schandharmonika, des Sitzens auf dem Lasterstein und der Schandgemälde, welches ich alles weiß. Jetzt tragen diese Leute ihren feinen, schwarzen Hut wie ich. In Rücksicht falliter Mädchen ist uns allen bekannt, daß sie sonst Strohkränze und Hauben bei uns tragen mußten; in Rom aber eben darum letztere nicht nach Serv. in 7. Aeneid. Virg. Jetzt brauchen sie nicht einmal Strohhüte aus Italien aufzusetzen. - Diese zwei Menschenklassen würden nun mit einem Kopf, der in einem Kopfzeug von lauter Lorbeerblättern steckte, eingesargt und eingegraben werden, hätte nicht der Staat seine Medisantinnen bestellt, die dergleichen Volk in Empfang nehmen und handhaben. Und wie tun sie das? Sie fallen darüber her über den Fallierer und über die Fallite und greifen zu - sie malen an das Paar selber die Schandgemälde - sie läuten in jeder Repetieruhr die Schand- und Armesünderglocke über ihnen - sie lassen vor jedem Altar in der großen Kirche der Natur die eine die Kirchenbuße tun und den andern auf dem Lasterstein knien - und erwerfen beide halb an der Pillory des Fensters und erwürgen sie halb mit dem Halseisen der Zunge - und dann reißen sie der armen Falliten, um ihr das Alexis- oder Demutskleid3) anzulegen, fast alles ab, was sie etwan, als Diplome beßrer Jahre, von Ehrenkleidern und blauen Hosenordensbändern an ihrem Leibe an sich gesammelt hat.... Beim Himmel! sie würden nachlassen, wenn sie das arme Ding einsam in seiner Kammer mit dem Schnupftuch stehen und über manches weinen sähen....

Das Gericht hätte zwar jetzt nach der Überreichung des Libells dem Beklagten eine Ladung in faciem insinuieren sollen, daß er zu rechter früher Tageszeit entweder in Person oder durch einen Gevollmächtigten vor der Berghauptmannschaft erscheinen, mit Klägern gütlichen Vergleich pflegen oder rechtlichen Bescheid gewärtigen sollte; das war aber gar nicht nötig, weil ich schon längst erschienen war und ja erst vor einigen Augenblicken mein Klagelibell übergeben hatte.

Ich stand demnach schon im Termin in Person, verwarf vorher Güte und befestigte sogleich den Krieg rechtens, oder deutlicher: ich kontestierte Litem. Ich hatte meine Ursachen, das Klaglibell nicht lange inept, voll kumulierter und generaler Klagen zu nennen: jura novit curia, d. h. bei einer respektablen Berghauptmannschaft kann ein Beklagter alles voraussetzen, was er selber weiß, sobald beide eine und dieselbe Person ausmachen. Ich rezessierte demnach von Mund aus in die Feder dergestalt:

»Vor der fürstlich scheerauischen Berghauptmannschaft erscheint Beklagter und setzet zuvörderst dem angeblichen Mandatarius der Klägere exceptionem deficientis legitimationis entgegen, indem noch keine gehörige Vollmacht für ihn bei den Akten zu sehen ist; er bittet daher zu erkennen:

daß der angebliche Anwalt seine Vollmacht binnen der Michaelis-Messe ad acta zu liefern verbunden.

Ferner opponiert er den unbefugten Klägern exceptionem nondum praestitae cautionis pro expensis; da sie in ganz Deutschland zerstreuet angesessen sind, Beklagter aber wegen der Inseratgebühren und des Ehrensoldes Sicherheit braucht; hoffet daher, den Klägern werde auferlegt werden,

Kaution oder Vorstand für den auflaufenden Ehrensold durch eine Buchhandlung zu bestellen.

Er könnte auch die Einrede mehrerer Litis-Konsorten - ferner die des dunkeln Libells - sogar des inepten, da einige Nebensachen darinnen stehen - entgegensetzen und könnte also den wohllöblichen Gerichtsstand bitten,

Klägere zu Einreichung eines schicklichem Libells anzuhalten.

Aber Beklagter ist mit dem Libell ganz zufrieden und hofft, daß schon in Betracht der zwei ersten Einreden werde erkannt werden,

daß Beklagter auf die Klage sich nicht einzulassen brauche, Klägere aber alle Ehrensolds-Kosten ihm zu erstatten schuldig.

Inzwischen läßt er sich doch ein, freilich eventualiter und protestierend.

Er negiert vieles. Er hofft aber, da der Generalsuperintendent Jakobi, Doktor Miller und Herr Oemler1) einem Geistlichen anraten, in gesellschaftlichen Religionsstreitigkeiten mit nichts zu antworten als mit Witz: so werde Beklagtem noch weit mehr nachgelassen und verstattet sein, in einer bloßen gerichtlichen sich reichlich mit Witz zu wappnen und damit auszufallen.

Beklagter negiert gänzlich, daß Klägere seine eingeschalteten Digressionen, Satiren etc. lesen müssen: er warnt sie vielmehr stets durch Überschriften oder Leuchtfeuer vor solchen gefährlichen Sandbänken und Skagerraks, und es ist ihre Schuld, wenn sie diese Riffs nicht umfahren, d. h. umschlagen. Überhaupt wird das Wort Leser in wenig deutschen Städten recht gebraucht, außer in Wetzlar: beim dasigen Reichsgerichte, wo die Einteilung in die Kanzlei und in die Leserei üblich ist, bedeutet es Menschen - ein Paar sind es -, die alle einlaufende Schriften aufbewahren, ohne sie zu lesen; denn letzteres kömmt den Kammergerichtsbeisitzern zu, aber nicht der Leserei. Anstatt nun, was allein von einem Leser gefordert werden kann, gleich den Großen ein Buch zu kaufen und es wohlkonditioniert aufzubewahren, die Blätter aufzuschneiden oder auseinanderzuziehen, lesen solches viele und tun es den Buchbindern nach, die es unter dem Beschneiden und Planieren auch oft lesen. Und das ists ja eben und allein, was die besten Leser oft so kalt gegen ihre besten Dichter und Weisen macht, daß sie, anstatt sich, wie die zwei Wetzlaer Leser, auf bloßes Konservieren einzuschränken, mit dem Zeigefinger, wie mit einem Setzers-Zeilenweiser, solche dicke Werke ordentlich durchrutschen, gleich als arbeiteten sie in der Druckerei als Setzer, Korrektores und Autores, die freilich die Sachen lesen müssen. Daher kömmt es auch, daß viele Mädchen viel billiger und mit mehr Lobe über gute und schwere Werke richten, weil sie solche nicht sowohl lesen - sie schauen jede Seite nur gut an - als reinlich und wohlkonditionierlich erhalten und von vornen durchblättern wie Karten-, Rock-, Rindspsalter- und Tulpenblätter. Beklagter leitet dieses heillose Vorurteil von der griechischen Kirche her, wo der Leser der erste Priestergrad ist und wirklich zu lesen hat. Man möchte aber wohl fragen: hat denn irgendein Autor einen profanen Leser, wie der russische Bischof den kanonischen, ordentlich ordiniert? Hat er, wie der Bischof, ihm die Hand auf den Kopf gelegt und gebetet: ›O Herr, gib Stärke deinem Knecht, der erwählt hat, deine Geheimnisse zu bekleiden und die Kerze vor ihnen herzutragen‹? Und hat er ein Buch auf seinem Kopfe aufgemacht, die Haare des letztern kreuzweis abgeschnitten, ihm die Hand zum Kusse und eine Lampe gegeben? - -

Gleichwohl merkt Beklagter wohl, daß noch immer das Lesen, d. h. das Aufschneiden und Durchblättern eines Buchs, das oft 300 Blätter hat, zu einer Anstrengung nötige, die dem Flore des Buchhandels eben nicht sonderlich forthelfen kann. Wär' es hingegen möglich, eine Lesemaschine zusammenzusetzen, die ungefähr nach dem herkulanischen Instrumente, das die alten Bücherrollen monatlich um eine Spanne aufrollt, modelliert wäre und die in Form einer Buchbinder-Heftlade statt der Finger der Leser arbeitete und vikarierte und die lesenswürdigern Meßprodukte aufschnitte oder aufzöge; wäre das zu machen und im Buchladen zu Kaufe: so möcht' es wohl wenige Meisterwerke mehr geben, die nicht von einer Hand in die andre gingen, und die deutsche lesende Welt und die gelehrte dazu wären dann weiter, als man sie gegenwärtig sieht. - -

Ferner negiert Beklagter, daß Klägere und Klägerinnen Satiren nicht fassen könnten. Anlangend Klägere, so halten solche das ganze Jahr die politischen Zeitungen - wenigstens die Erlanger, die Wiener, die Prager, die Baireuther und das politische Journal - mit, welches wohl die feinsten Satiren sind (aber auch die bittersten eben darum), die auf den ganzen Welt- und Zeitlauf können geschrieben werden, gesetzt auch, vieles wäre in besagten Blättern wörtlich wahr.

Anlangend Klägerinnen, so hätte adversantischerseits angegeben werden müssen, ob solche erwachsen und verehlicht. Denn in diesem Falle stehen sie Tabaksrauchen, Toben, Satiren und alle Unarten der Männer leicht aus. Klägerinnen kommen den Truthühnern nahe, die in der Jugend, zärtlicher als jedes andre Federvieh, in Wärmkörbe gebettet und auf keinem Steintisch - weil sie sich sonst die Schnäbel zerhacken - gefüttert werden müssen, die aber in reifern Jahren Wind und Wetter und alles vertragen. -

Drittens ist das Gegenteil für Beklagten eine Unmöglichkeit. Addison erzählt von einem Menschen, der, wie Jupiter, eine Ziege zur Amme gehabt und der deswegen noch in seinen reifern Jahren, wenn niemand bei ihm in der Stube war, immer einige Ziegensprünge gemacht. Auf Beklagten hat sich ein dergleichen Bocksfuß statt eines Podagras vererbt, und er muß sich nun immer mit einem oder dem andern Sprunge helfen. Er denkt, es schade ihm nichts oder weniger als der Ernst, da der lange, ernste Bart des Philosophen dem Barte der Juden gleicht, den sie - anstatt daß den beschornen Wasserpudeln der ihrige zum Schwimmen stehen bleibt - bloß zum Ersaufen behalten. Er läßt vielmehr unverhohlen, was er damit haben will - Untertanen nämlich. Als der Prinz Antiochus Kantemir in seinem zwanzigsten Jahre seine erste Satire - wider den russischen Pöbel, der sich gegen die neue Helle sperrte - ausgearbeitet hatte: so honorierte ihn die Kaiserin Anna dafür mit einem Ehrensold von 1000 Bauern, wobei für die Druckseite mehr als 70 Bauern gekommen sein können. Beklagter will sich, da er, obwohl im 45sten Kapitel des Hesperus <../hesperus/hesp451.htm> nobilitiert und geadelt, gegenwärtig nichts zu regieren hat als sich selber, nach und nach einige Untertanen und Bauern erschreiben, die ihm die jetzige Zarin leicht abstehen kann, wenn sie bedenkt, was - zumal aus Kurland - sie hat und was er.

Viertens sollte doch jeder lieber alles aus der Acht lassen als dieses: ein beschriebnes Leben ist von einem geführten bloß im Boden verschieden, worauf die Eigner davon stehen und der bei der Biographie in Lumpenpapier besteht. Das Menschenleben wird nun offenbar unter der Äquator-Linie geführt, die der eilige Wechsel mit Windstille, Sturm, fliegenden Fischen, Himmelsblau und Gewittern bezeichnet: über diesen Wechsel wird die Seele nicht eher erhoben, als bis er verkleinert und zusammengezogen unter ihr liegt. Dem Menschen kömmt aber seine Qual und seine Freude zu groß vor, weil er erstlich Tage und Wochen braucht, bis eine von beiden sich durch seine Seele gezogen, und zweitens, weil die Mitteltinte und der Halbschatten so breit ist, der sich zwischen beide trennend legt. Wenn nun die Poesie Seufzer und Freudentränen, die fünf bunten und dunkeln Akte des Lebens mit schmalen Mitteltinten, mit verkleinerten Zwischenräumen in wenig Minuten durch die Seele treibt: so stellt sie den Menschen auf die Anhöhe, auf der er am Ende des Lebens über die eingeschrumpfte Vergangenheit blickt, die vorher eine ausgespannte Zukunft einnahm. Der Mensch ist im Ernste nicht humoristisch genug und im Scherze nicht ernsthaft genug. Nicht nur die Wahrheit besteht aus allen Menschen-Systemen zusammengenommen, wie nach Buffon und Kant die Sonne die verschiednen Materien der verschiednen Planeten, die um sie fliegen, in sich vereinigt befasset: - sondern auch das rechte Herz ist aus allen ungleichen Gefühlen gebaut und trägt ein Weltall, nicht als Krone, sondern als Stufe.

Daher macht der schnelle Wechsel zwischen Ernst und Scherz nur ernster, und wenn man das Buch eines Engländers, worin dieser Wechsel herrscht, beschließt, denkt man, es sei das Leben.2)

Daher bringt es den Beklagten öfters auf, daß die arktischen Deutschen, gleich Wunden, in einem fort recht warm (pathetisch) gehalten sein wollen von Autoren. Er erklärt frei, eh' er das täte, daß er seine Werke zu Zundstricken und Lötröhren machte, um Reverberierfeuer anzuschüren, wollt' er sie lieber zu Papiersäcken3) kütten, um eins auszuspritzen. Man scheint auch gegnerischerseits ganz und gar nicht daran gedacht zu haben, daß Beklagtens Werke dem Leben der Menschen gleichen, dessen schöner Wechsel mit schwarzen und weißen Taten auf eine sinnbildliche Art in den Variationen der Gesetze auf Schwarz und Weiß so deutlich nachgeahmt wird, daß solche - hier nistet freilich ein Gleichnis im andern - dem türkischen Koran nacharten, in dem eine Menge Stellen, die der Teufel dem Propheten inspirierte - weil ihm der Engel zu eilig diktierte -, nach der muhammedanischen Meinung eingeschoben stehen, die aber nichts schaden, weil ihm Gott wenige Seiten darauf wieder Stellen einflößte, die jenen obigen hinlänglich widersprechen. In unsern Gesetz- und andern Büchern arbeitet oft der Teufel erst hinter Gott und schreibt als Beklagter den letzten Satz; und das macht uns alle ungemein konfus.

Beklagter wiederholt nicht nur die obige Bitte, ihn bei seinem Rechte zu schützen und von der Klage zu entbinden wie von allen Schäden, sondern setzt auch die neue hinzu, daß eine löbliche Berghauptmannschaft Klägere ordentlich zum Lesen seiner Satiren, so wie sie durch Gefängnis zum debito conjugali können gebracht werden, durch Stubenarrest anhalten möge; er will sich übrigens seinen Gegenbeweis, fremde Schwüre und allerlei rechtliche Notdurft hiemit vorbedungen haben. Desuper.«

*

Als ich protokollarisch vernommen war: mußte der klägerische Mandatarius auf alles replizieren. Ich will das ganze Verfahren bis zum Bescheide nur mit halben Worten mitteilen. Ich replizierte als klägerischer Anwalt - duplizierte sofort als Beklagter - sogleich hintendrein war der Anwalt mit einer Triplik bei der Hand - der Beklagte später mit einer Quadruplik - der Anwalt wollte sich noch einmal mit einer Quintuplik in die Höhe richten - aber der Beklagte warf ihn völlig um mit der Sextuplik, nach welchem Verfahren denn endlich recht gut zum Bescheide konnte geschritten werden.

Es wird von keinem gescheuten Manne angefochten werden, daß ich den Bescheid selber erteilte an beide Parteien. Ein solcher Mann schließt: wenn der Mensch in Gewissenssachen Richter und Täter und rechtlicher Beistand und advocatus diaboli zugleich sein darf, so wird er in viel geringern Rechtshändeln noch leichter eine solche Vetterschaft und Sozietät sein können. Warum soll ein Advokat das, was er auf eine ehrliche Weise in drei verschiednen Gerichtshaltereien vereinzelt ist, Richter in der einen, Advokat in der zweiten, Partei in der dritten, nicht in einer und derselben auf einmal in einem Simultaneum vorstellen und so allein ein Kollegium voll vota curiata formieren? - Die Möglichkeit davon leuchtet einem jeden schon aus der Wirklichkeit ein. Ein Fürst stellt nicht nur häufig eine solche Drei-, Vier-, Fünfeinigkeit leicht vor, sondern in der Tat ist seine Person oft ein Personale von einem Herzoge, Markgrafen, Grafen und Ritter auf einmal, nicht zu gedenken, daß er zugleich das ganze Volk und das Oberhaupt desselben repräsentiert, welches letztere er selber erwählt und voziert; daher ist sein Wohl stets das Wohl des repräsentierten Volks. Auch setzt eine solche Korporation in einem Körper, eine solche Einheit des Orts, nicht die geringste Einheit der Handlung voraus: der deutsche Kaiser kann nach dem Staatsrechte derselben Macht als ungarischer König Subsidien schicken in einem mißlichen Kriege, den sie mit ihm als östreichischen Herzog führt, indes er als deutscher Kaiser die höchste bewaffnete Neutralität beobachtet. Noch ein Beispiel: wenn das Regierungskollegium in einigen Ländern Ämter mit gewissen Nutznießungen verliehen hat, so muß man beim Kammerkollegium um ein zweites Dekret, die Sachen zu bekommen, nachsuchen, und die Supplik lautet so: »Da mir Ew. Durchlaucht besagte Nutznießung bewilligt haben, so bitt' ich Ew. Durchlaucht, mir solche wirklich zu geben.« Supplizierte Supplikant nicht: so könnte der Fürst dieselbe Sache, die er als die eine moralische Person ihm zugestanden, als eine zweite ihm entziehen. So sind auch ganz verschiedene Gesetze von einem und demselben Wesen, aber von verschiedenen moralischen Personen und Unioten, die es in seiner XXger Union und in seinem Kurverein befasset, statthaft.

Demnach konnte gegenwärtiger Verfasser, zumal als natürlicher Dauphin, die elende kleine Verbrüderung von Richter und Parteien als sein eigner Drilling ohne Mühe vorstellen; und die fürstlich scheerauische Berghauptmannschaft erteilte beiden Parteien folgenden merkwürdigen Bescheid:

»Auf Klage, Antwort und erfolgtes Verfahren in Sachen der Leser und Leserinnen, Klägeren, an einem, Jean Paul, Höfer Büchermachers, am andern Teil gibt die fürstlich scheerauische Berghauptmannschaft folgende Resolution:

daß Beklagter, Jean Paul, Büchermacher, nicht befugt sei, in seinen historischen Bildersälen mitten unter Damen Spaß oder Extrasachen oder andere Sprünge mit seinem ererbten Bocksfuße zu machen - daß ihm aber in Betracht, daß er mit besagtem Fuße behaftet und daß alle Völker Traumfeste und Narrenfeste hatten und daß man noch jetzt bei Weinlesen, auf der Themse und beim Ankeraufwinden das Recht hat, Stachelreden vorzubringen, daß in diesem Betrachte Beklagtem unbenommen bleibe, hinten an seinen Bildersaal ein Wirtschafts- und Hintergebäude (obwohl in einiger Entfernung) anzustoßen, um da sein Wesen zu treiben und seinen satirischen Tabaksrauch ohne Schaden der Damen, denen sonst die Schminke abfließet, auszublasen - - ferner resolvieren und erkennen wir:

daß Klägerinnen in Erwägung, daß die Last des Kindergebärens, des Kindersäugens und der Haushaltung sie schon bis an die kalte Erde niederdrücke, von der Lesung seines satirischen Appendixes gänzlich befreiet und eximiert sein sollen -

daß hingegen Klägere ganz und gar gehalten seien, dem Büchermacher in sein Filial nachzufolgen und da zuzusehen, wie er springt und setzt, desgleichen die wenigen Pickelherings-Pillen, die er unter dem Springen zuwirft, zu bezahlen und hineinzuschlucken, angesehen schon bei den Ägyptern das ganze Volk monatlich etwas zum Laxieren nehmen müssen.4) - Wornach sich zu achten; publiziert Hof, den Schalttag 1796.

Berghauptmannschaft allda.«

*

Mit diesem Dekret eines höchst venerierlichen Gerichtsstandes bin ich jetzt sattsam gedeckt und lasse nun ohne Scheu mein satirisches Hospitalschiff neben der biographischen Silberflotte herlaufen. Das Edikt (edictum perpetuum) des Gerichtshofes nimmt mir zwar die Leserinnen, für die jetzt die Satire nur ein Rückenwind ist - sie zaubern sehr, und schon nach Bodin. l. 2. c. 2. de daemon. können Zauberinnen kein Salz ausstehen -; aber doch sämtliche Leserschaft muß nach dem publizierten Urtel des Justizdepartements in meinem Pulverturm, den ich abgelegen von der biographischen heiligen Stadt erbauen muß, bei mir ausharren und mir zuschauen. Ich erwarte mit einiger unschuldigen Schadenfreude, was nun die kleinen Kunstrichter nach einem solchen Erkenntnisse eines hohen Dikasteriums etwa anzustellen gedenken; ich aber kann kaum die Minute erharren, wo ich mich vor mein Rücken-Positiv setze und meine Murkis vororgle, gänzlich bedeckt von meinem Fetwa und Arret. - Die folgende Satire ist zwar die erste; aber die im nächsten Buche ist die zweite - und so werden in allen meinen Werken die Satiren in fortlaufender Signatur fortgezählt: denn die Appendizes haben sämtlich, wie größere Vulkane, eine geheime Verbindung.

Erster Appendix

Die Salatkirchweih in Obersees,
oder fremde Eitelkeit und eigne Bescheidenheit

Ich wollte diese Kirchweih schon vor einigen Jahren beschreiben; aber ich hatte niemals Platz: Gott gebe, daß ich die Beschreibung samt den vielen Einschaltungen nicht weniger zu Ende bringe wie dieses Buch. -

Vor 13 Jahren wurde der geduldige Juris-Praktikant Weyermann, der fast nichts einzunehmen hatte als die copiales für seine Schriften, die er selber mundierte, im Frühjahr so glücklich, daß ihm die ganze Gerichtshalterei Obersees anfiel, eine der besten im Lande, dem Kaufherrn Oehrmann belehnt und 4 Meilen von der Stadt gelegen. Ich und Weyermann wohnten in dieser. Er hatte mich lieb und kopierte oft meine Exhibita und oft mein Betragen: ich war freilich selber nur die lange Tangente seiner Zirkel und er also eine kurze Kotangente; ich der Gipsabdruck, er mein Nachstich. Manche Menschen können, wie die Engländer, ihr Ich mit einem großen I schreiben und den ganzen Tag Zugwerk und Buchdruckerstöcke um das große I entwerfen (als wär' es der Anfangsbuchstabe des Universums), ohne daß ein fremdes I sich darüber erzürnt oder sie Egoisten schilt: die Lust wird ihnen herzlich vergönnt. Und so war Weyermann; und ich gönnte ihm gern die Hefe (die Gerichtshalterei), die seinen ganzen Teig aufhob und über den Backtrog trieb. Ich sagte zu mir: je kürzer die Bahn oder auch das Gesicht eines Menschen ist, aus einem desto höhern Tone pfeift er, wenn er drei Schritte darin getan; so geben kurze Pfeifen hohe Töne, lange aber tiefe.

Ich erhörte daher mit Vergnügen die Bitte des Gerichtshalters, mit ihm nach Obersees zu reiten, ob er sie gleich in der eiteln Absicht tat, mit meiner Gesellschaft großzutun und zu prunken. Da nach den Theologen die Mohren, Chams Enkel, bloß durch den Fluch Noahs so schwarz angelaufen sind: so hätte der gutmütige Weyermann gern seinen Bedienten aus Liebe verflucht, wenn er ihn mit dem Fluche hätte, wie mit Beinschwarz oder Ruß, zu einem Kammermohr umfärben und schwärzen können. - Wir mußten einen Tag vor der Salatkirmes, oder vor dem Johannistage, in Obersees ankommen, damit am Kirmestage selber die reitende Jury, Weyermann nämlich, von dem Gerichtssprengel die Huldigung empfing.

Als er abstieg im Oberseeser Schloßhof, sagte er laut vor so vielen zulaufenden Gerichts-Insassen: »Herr Kammerherr v. Torsaker, Großkreuz vom Seraphinen-Orden, schwitzen Sie stark?« -

»Ich leidlich,« - sagt' ich -, »aber der Gaul!« - - Das wird aber kein Mensch verstehen; und es muß die Decke von der Sache gezogen werden.

Es ist bekannt, daß am scheerauischen Hofe ein Avanturier drei Wochen lang Cour und hohes Spiel machte, der sich für einen schwedischen Kammerherrn und Großkreuz vom Seraphinen-Orden ausgab, namens Torsaker. Zufälligerweise (glaub' ich) kam ein authentisches Blatt aus Stockholm, das in einer halben Minute den Ritter degradierte und ihm den Diebsschlüssel und Irrstern herunterriß. Ich meines Orts halte diesen Vexier-Ritter gleichwohl für so ehrlich als die besten Michaels-Ritter in Spaa: er und diese sind vielleicht - wenigstens muß man das Beste präsumieren - halb von Verstand und sehen sich, wie viele Wahnsinnige sich für Kardinäle, Personen aus der Gottheit, für Mond-Souveräns, für Töpfe, Haferkörner hielten, wirklich für Ritter an. Oft aber denk' ich mirs so: da der Papst außer den Kardinälen, die er laut kreiert, stets noch einige leise (in petto) erschafft, die aber, wenn er ihnen nach langer Zeit die laute Kreation gewährt, den Rang nach der Zeit der leisen haben: so ists eben nicht unvernünftig, wenn man diese stumme Ernennung zu Rittern, zu Marschällen, Marquis etc. bei allen solchen voraussetzt, denen keine fehlt als die laute.

Inzwischen ging der Herr v. Torsaker zum Teufel, und das in solcher Eile, daß sein Kleid samt Kette und Stern dem maitre d'hotel zustarb, vor dem er jenen Kanarienvogel bisher nachgeahmt hatte, der (wie Goeze berichtet) bei einem Kaufmann das Geräusche gezählter Taler recht täuschend nachäffen lernte. Der Wirt, der vom schwedischen Kanarienvogel weiter nichts erhalten hatte als das leere Geräusche, hielt sich an die Ordenskette und ans Kreuz, die er für Geld zur Schau, zur Miete, zu Kaufe zu geben gedachte. Er streckte mir die Ritterwürde für 18 gr. rhnl. auf drei Tage vor.

Eine Stunde vor Obersees legt' ich mich selber an die schöne Ordenskette, die sich mit 11 goldnen Engelköpfen (jeder sechsfach beflügelt oder mit 6 Floßfedern) und mit ebensoviel Patriarchalkreuzen herniederringelte; dann warf ich das blaue gewässerte Band über, den Tragriemen des Ordenskreuzes, auf dem eine blaue Kugel die Buchstaben I. H. S. aufwies. - Es würde mir auffallen, wenn der König von Schweden oder die schwedischen Reichsstände mit mir Händel darüber anfingen, daß ich mich in Obersees für einen wirklichen Seraphinen-Ritter ausgegeben: denn erstlich tat ich die Sache bloß dem Gerichtshalter zu Gefallen, damit er sich vor den Oberseesern mit der Begleitung und Freundschaft eines Großkreuzes ein ungewöhnliches Ansehn geben möchte, und zweitens wundert es mich fast, daß der König und seine Stände so wenig erwägen, daß ich ja nicht einen schwedischen Ritter und Kammerherrn nachmachte und nachäffte, sondern einen Affen von beiden, den Avanturier. Eben um diesen mit gleicher Münze abzuzahlen, verstellt' ich mich in diesen Versteller und wurde der Nachdrucker des Nachdruckers, so sehr auch meine Eigenliebe vielleicht unter seinem Ordensstern und Schlüssel litt. - -

Unser Jagdschloß - gleichsam eine Bagatelle vom Prinzen von Artois, eine Solitude - war hinlänglich geräumig, leer und kühl. Der Gerichtshalter gab mir neun Zimmer ein, in deren toricellischen Leere nichts war als ich selber; er besetzte mit sich nur sieben. Ich machte neun Flügeltüren auf und wandelte im Korso und Korridor eines aus neun Zimmern erbaueten Saales hin und her; der Gerichtshalter macht' es in der Halle und Sandallee seiner sieben Stuben ebenso, und sooft wir aneinander stießen, lächelten wir zugleich, und ich sagte zu Weyermann: »Wir können noch den Verstand verlieren über die Ehre; aber groß ist der Mensch hienieden.« - Draußen ums Eskurial lag das herrliche Obersees, das in Rußland nun längst zu einer Stadt promoviert hätte, da es ein Dorf war - wiewohl es jeder schon für eine halten könnte, der bedächte, daß es in Theben nur 100 Tore gab, hier aber soviel Tore und Einlasse, daß zur Mauer wirklich kein Platz ist. Ich machte den Justitiar auf den Mangel alles Steinpflasters aufmerksam: »Man würd' es nicht«, sagt' ich, »von der Stadt Obersees weggerissen haben, müßte sie nicht täglich Belagerungen und Bomben vorbauen. Ich seh' auch schon Düngerhaufen zum Schutze beschoßner Keller.« Ich gestand es dem Advokaten, ich sähe nicht, warum bloß London alle die Dörfer, an die seine Gärten und Gassen stoßen, als seine Mittelstücke und Ansätze anschrauben und sich damit groß und breit machen darf, Obersees aber nicht; sondern ich glaubte vielmehr, die Stadt Obersees könn' ebensogut als eine andre die um sie liegende Stufensammlung von Dörfern, die nur durch einige Wiesen wie durch Gärten sich von ihr trennen, zu ihren zehn Vorstädten schlagen, und er sei in meinen Augen der Stadtrichter. Er versetzte: »Es ist doch nicht Ihr Ernst.«

Im Schlosse wohnte niemand weiter als der Schloßhauptmann und seine Ratten und »Weibsleute«. Er war ein Bauer und der Bruder und Sequester seiner Schwester. Sie war die Braut des Schulmeisters, wollt' aber seine Frau - ob sie es gleich ihren sel. Eltern versprochen hatte - nicht werden, weil sich mit dem Schuldiener ein hitziges Fieber gleichsam gerauft und ihm nicht so viel Haare gelassen hatte, als ein Truthahn noch in der Pfanne anhat. Ihr Bruder war ihr von der Obrigkeit gesetzter Sequester, damit sie kein fremdes Handgeld, d. h. keine fremde Hand unterdessen nähme: denn keine Liebe - selber die erste, fünfte, neunte nicht ausgenommen - hat ein Mädchen so schnell als die zweite.

Ich und der Gerichtshalter waren so glücklich, daß sie unsre Heiduckin, Jagdlakaiin und Adjutantin war; man bälge oder schäle die Venus Urania aus, hänge ihre Haut einige Tage im Sommer ans Trockenseil zum Einlaufen und ziehe der Göttin den dürren Überzug, die Nachtkleidung, wieder an und seh' ihr ins Gesicht: so hat man - unsre Eva. Es war an ihr, wie an andern Schwanen, alles herrlich, nett und weiß, nur die Haut nicht. Ich weiß kein größeres Lob ihrer Schönheit als dieses, daß der Verfasser und Seraphinen-Ritter Torsaker, als die jungen Pursche von Obersees in den Schloßhof kamen, um ihr - sie nahm gerade einigen groben Stühlen die Stuhlkappen ab - wie den andern Mädchen seidne Floskeln und Flügeldecken und Berlocken für die Purpurfahne des Maienbaums abzubetteln, kein größeres Lob weiß ich für sie, sag' ich, als daß ich meine seidne Reise-Krawatte aufknöpfte und herunterzog und ihr hinreichte mit den Worten: »Schenk' Sie es dem Maienbaum in Ihrem Namen.« Sie wollte nicht, sie mußte aber.»Man kann in unsern Tagen«, sagt' ich, »leicht à la Hamlet gehen.«

Ich habe oft meinen Freunden abgeraten und vorgehalten: »Man muß Frauenzimmern und Leuten von höherm Stande nicht den geringsten Gefallen tun, um etwan ihre Liebe damit zu erbeuten, wiewohl mans tun kann, um seine zu zeigen. Denn beide sind so sehr an diese Personensteuer und Landtaxe gewöhnt, daß man sie zehnmal mehr einnimmt, wenn man sich von ihnen eine Gefälligkeit - erweisen lässet.« Ich führe diese ewige Theorie und Satzung nur an, um zu bemerken, daß sie grundfalsch ist, wenn man sie auf geringere Mädchen appliziert: diesen kann man ohne allen Schaden die besten seidnen Schnupf- und Halstücher zuwerfen und zollen.

Es ging jetzt gegen Abend: die Sonne setzte ihren letzten Tags- und Frühlingsglanz herrlich in bewegliche Edelsteine auf den von Floßfedern geschlagnen Wellen um, auf den grünen Fensterscheiben, auf den wankenden Laubenhälsen, auf den durchsichtigen Gipfeln und auf einem Wölkchen, nahe an ihr und der Erde. Sie hätte sich, wären jemand im Dorfe zwei Tropfen in den Augen gestanden - welches bei der allgemeinen Vigilienfreude kein Wunder gewesen wäre -, in die Tropfen aufgelöset und sich als eine Goldsolution ans dämmernde Auge gehangen.

Weyermann wartete, bis die Jugend des Orts sich bei ihm eine Erlaubnis auswirkte, den Maienbaum als einen Schlagbaum oder ein Schutzbrett ihres Freudenstroms aufzuziehen: dann, nach der Permission, konnten wir ins Dorf hinuntergehen zum Maienbaum. Welches Lust-Feldgeschrei! Wie erheben sich alle Herzen zugleich mit einem Baum! Beßre Baumheber als die, die ihn sonst umstürzten, sind jetzt die Bettaufhelfer des liegenden Freiheitsbaums, und unzählige Stäuber richten ihn empor, gleichsam als ein Sinnbild eines guten Staates, oben mit einem hangenden Garten grünend, mit einem Gipfelputz von seidnem Ordensband-Tauwerk, mit bunten Brahmsegeln zum Stehen, mit einer roten, knarrenden Freiheitsfahne und einem roten Hahne und mit einem gleißenden Stamm, herrlich geschält und abgeblattet und fest in die Erde, ohne Wurzeln, eingeschraubt und eingestampft. Als der sixtinische Obeliskus in Rom sich aufrichtete, war der Lärm ebensogroß, aber nicht der Jubel, und die Römer hatten nicht so viele Schmerzen in die Flucht geschlagen, daß sie, wie die sieghaften Oberseeser, um die Siegessäule tanzten. Ich und der Stadtrichter waren, ungefähr 30 Schritte davon, glücklich: er wars, weil er vor allen Leuten neben dem Kammerherrn v. Torsaker stand und dessen seraphisches Paternoster aus Köpfen frei angreifen durfte, nicht zu gedenken, daß auf morgen der Antritt seiner Regierung über die ganze Volksmenge fiel - ich war noch glücklicher, denn ich sah in einem fort meine Stipendiatin an, die schöne Eva, und bewunderte in der Dämmerung ihren Teint (denn es gibt keine beßre sinesische Schminke bei David Schirmer in Leipzig als mein kurzes Gesicht), und zweitens sah Eva in einem fort auf mich und zeigte vielen ihren Mäzen und Wohltäter.

Welche Einheit des Interesse, welche richtige Knoten, die auseinander müssen, bringt doch eine einzige schöne Gestalt für einen fremden Passagier, der sie festzuhalten sucht mit Blicken oder Fingern, in das ganze verwirrte, mit Akteurs bevölkerte, überladne Theater eines fremden Orts! - Steht eine solche Sonne noch unter dem Horizont, so ist der ganze Ort ein ödes, fröstelndes Schattenreich, und man hängt sein Herz an nichts weiter als an die Pferde, die einen aus dem Orkus oder Hades ziehen. In einem solchen jämmerlichen Falle bin ich gar ein ordentliches Windei ohne Dotter: es ist - außer dem, was ich schuldig bin - nichts aus mir herauszubringen, der Wirt mag mich mit seiner Brust ansitzen und anbrüten, wie er will. - Hingegen, wenn der elektrische Funke eines schönen Auges, die aura seminalis einer schönen Stimme über den Wind-Eiergang fährt: wie pulsieren da tausend puncta salientia im Kopf! Und die besten Gedanken werden flügge und schwingen sich auf!

Ich war auf nichts so begierig, als auf den Schulmeister zu treffen, den Bräutigam der Dauphine und Freya. Denn ich hatte vor, wenn er etwas taugte, für ihn zu arbeiten und einen schönen Ankerplatz in ihrem jungen Herzen für ihn zurecht zu machen und mich deshalb in letzteres selber zu begeben und einzuschleichen. Ich konnte präsumieren, wenn ich an die Pille, den Schulmeister, mich als Silber anlegte, so dürfte sie ihn in diesem Vehikel leichter ins Herz hinunterbringen.

Die Geschichte wird noch viel interessanter.

Wir gingen inzwischen nach Hause; der Stadtrichter dachte und philosophierte unterweges und merkte an: »Die armen Leute bilden sich Königreiche auf ihre abgeschälte Stange ein: jetzt möcht' ich wissen, wie sie sich erst gebärdeten, wenn sie einen beträchtlichen Posten im Staate bekleiden sollten, oder nur meinen.« - »Oder vollends, Herr Stadtrichter, wenn solche Kleinstädter lange Ordensbänder und drei Kammerherrn-Knöpfe tragen dürften. Ich denk' aber, sie blieben dann nicht lange bei Verstand: ach! es ist so leicht, ein Narr zu werden! - Ich habe in großen Städten die bescheidensten Dragoner gekannt, welche wie Frösche aufliefen, wenn sie auf dem Theater bei den Ritterschauspielen stumme Feimer machen mußten oder andre Justizpersonen von Belang.« - Wir arme Teufel allzumal dürfen entweder alle prahlen oder keiner. Bei Gott! ich tat im vorigen Herbst unrecht, daß ich über die vielen Kunstgärtner aus mehrern Städten den Stab brach, die sämtlich in die fetten Stachelblätter einer Aloe ihren Namen als in ein Buch des wachsenden Lebens eingesägt hatten. Der Name eines Menschen muß irgendwo haften wie in einem Belobungspatent; und ich beteure, verewigte ich nicht den meinigen auf Schriften, ich würde ihn auf der Höfer gefrornen Saale einkratzen und einfahren mit dem Schrittschuh - oder (wär' ich ein andrer Professionist) auf Messer- und Degenklingen - auf Fensterscheiben - innen auf Gefängnisgittern - auf einen neuen Darm oder Wurm darin, den ich zuerst entdeckte und den die Gelehrten nach dem Namen des Erfinders nennen müßten - oder (wär' auf der Erde nichts Neues mehr) auf einen neuen Klecks im Mond, oder Funken am Himmel - als Edelmann auf das Halsband meines Hundsstalles - als Huter ins Hutfutter - als Tischler buntfarbig an Särge - und als Leiche an meinen eignen, damit der Sterbliche und seine Unsterblichkeit nebeneinander hinuntergingen und zusammen verstäubten....

Ich kann den schweren Gedanken nicht ertragen, daß irgendein Mensch und Mitbruder, und wär' er noch so wenig, so ganz vergessen sein soll, durch so viele Jahrhunderte hindurch, daß die Heere der Jahre und Menschen so unachtsam über seinen unbedeckten anonymen Staub wegschreiten sollen. Es gibt aber einen Trost für uns alle, und das ist der, daß, wenn unser Gedächtnis und unser Namenszug auf der Erde ausgewischt und ausgetreten ist bis auf den letzten Endbuchstaben, daß es dann gleichwohl, so wie des edlen Friedrichs II. Name als astronomisches Sternbild in ewigen Sonnen brennt, noch ein unendliches Herz gibt, in dem die Namen seiner kleinen Unsterblichen in lichten Zügen glänzen und nie verlöschen. Und der kleinste Mensch empfängt von ihm zwei Unsterblichkeiten auf einmal. Gleichwohl oder eben darum sollten wir den niedrigsten Menschen-Namen nicht zerfallen lassen. - -

Abends trug uns die wandelnde Pygmalions-Statue das Nachtmahl und Herrenbrot auf eine lange Herrschaftstafel im luftigen, mit Abendröte und Abendkühle verschönerten Refektorium. Ich und der Stadtrichter konnten uns über die Tafel nicht mit Gabeln erreichen. Evas Reize drehten sich um uns blendend wie Spiegel in der Sonne und wie umlaufende, gleichsam Juwelen auswerfende Kronenleuchter: sie war, ob ich gleich ein Seraphinen-Ritter war, doch gegen den Gerichtshalter ehrerbietiger und stummer, weil sie unter seinem Zepter stand und weil er weniger mit ihr sprach als der Ritter. - Aber den Salat schleppte der Sequester herauf: »Die Kanaille« - sagte der Bauer - »versteckt sich drunten und will nicht eher 'was bringen, bis der Schulmeister wieder 'naus ist.«

Dieser kam vorher herein. »Es ist mein Aktuarius juratus,« (sagte Weyermann) »namens Schnäzler.« - Aus einem Räderwerk von Rädertieren und aus einem Teig von vibrierenden, krabbelnden Infusions-Tierchen war er zubereitet: er schnellte sich wie ein Käfer weiter und schien ein auf die zwei letzten Füße gestellter Vielfuß zu sein, an dem im Gehen hundert müßige, waagrechte Füße oszillierten; er hatte auf der Stubendiele den Gang des Springers im Schach, und jeder Sessel war sein Reitstuhl und Schaukelpferd. Er war zu allem, was sein Prinzipal wollte, schon fertig - gab jede Antwort schnell dreimal hintereinander - wollte alles machen, hatte schon alles gemacht - sein häufiges Selah und seine clausula salutaris war: »Ei herrlich und gut!« - er erhielt sich dabei auf nichts als auf den schaukelnden Fußspitzen. - Als Weyermann mit ihm fertig war, fragt' ich ihn: »Wie ich höre, Herr Kantor Schnäzler, hatte Er eine recht hübsche Braut?« - »Ei«, sagt' er, »ich habe sie noch - sie ist gegenwärtig sequestriert, und ich bin ihrer gewärtig nolens volens. Das Fieber hat zwar mein Haupthaar mitgenommen; aber ich seh' sonst gut aus. Gnädige Herren, es hat mir weiter niemand die Suppe eingebrockt als der Ranzenadvokat drüben, der setzt auch an sie.« - Mit einem Eulerschen Rösselsprung war er über das Stubenschachbrett hinüber und sagte am Fenster: »Ja! ja! sie schlagen dem bösen Menschen die Pflaster noch über: sie haben ihn erst gestern braun und blau geprügelt.« -

»Das muß morgen scharf untersucht werden«, sagte der Stadtrichter freudig.

»Ei herrlich und gut! Es ist nur ein schlimmer Vogel. - Er möchte aber immer einen Zopf haben, so lang wie mein rechtes Bein, er hätte mir nichts anhaben sollen: aber der Teufel red't aus ihm, und er machte der Eva weis, er zög' in die Stadt und machte Advokaten-Schriften, und dann, wenn er unser Herr Gerichtshalter wäre, so käm' er wieder heraus, und dann, sagt' er, sei Gott dem Oberseeser gnädig, der nicht sechs Reverenzen macht, wenn ich oder meine Frau zum Fenster 'naus niesen. Aber aus dem Schulmeister, sagt der Lügner, kann nichts mehr werden: gnädige Herren, Sie sollten einen oder den andern geistlichen Vers sehen, den ich Gott zu Ehren dichte.« - »Ich will ein ganzes Lied davon sehen, Herr Schnäzler«, sagt' ich und zog mit dem erstaunten Dichter zum Schlosse hinaus. Er kam nicht eher als vor dem Fenster des Ranzenadvokaten zur Besinnung, wovor er mich dicht vorüberführte.

In seiner Stube, die kein andres französisches Schloß hatte als ein otaheitisches, nämlich fremde Ehrlichkeit, war, wie sie, alles offen, nämlich alle Gesangbücher, das Berliner alte und neue, das Baireuther alte und neue, das Scheerauer alte und neue. Bekanntlich haben poetische Steiß- und Fuß-Geburten1) wegen ihres frühen Ablebens das schöne Recht, in die Kirche begraben zu werden - d. h. Verse, die nicht zum Lesen taugen, können doch wie die alten gesungen werden unter der Orgel. Gleichwohl war man in neuern Zeiten auf eine Blutreinigung der geistlich-poetischen Ader aus, und aus den Gesangbüchern wurden Zeilen, Strophen und Lieder ausgejagt, die, obwohl keinen guten Sinn, doch auch keinen schlimmen hatten. Der Kantor Schnäzler fing inzwischen diese durch den Gesangbuchs-Ventilator entwischende fixe Luft2) zusammen, die stets alten Liedern und schalen Bieren den Geist gibt; ich meine, er verglich das alte und neue Gesangbuch und kehrte die schönen Stellen des alten, die die ästhetische Tempelreinigung aus dem neuen weggefegt hatte, wieder auf einen Haufen und schlichtete wirklich dieses Raff- und Leseholz zu guten besondern Liedern zusammen. Er konnte mir zwei schöne zeigen, die ein vollständiger index expurgandorum des baireuthschen waren. Es würde gefruchtet haben, wenn man bei den Lieder-Unruhen in Berlin den singenden Insurgenten eine solche in Reime mit unendlicher Mühe zusammengeschobne Kolonie aller Stellen, die aus dem neuen Gesangbuch emigrieren mußten, hätte anbieten können: Schnäzler zeigt uns in seinen Korrekturbögen, daß man ebensogut aus altdeutschen Versen wie aus den Archaismen und Phrasen altrömischer Verse - wie Gymnasiasten tun - versus memoriales zusammenwerfen könne. -

Ich weiß, in ganz Deutschland hatte kein Dichter einen so herrlichen Abend vor Johannis als der Liederdichter Schnäzler: er war so glücklich wie Gellert, zu erleben, daß einmal der Rang zur Dichtkunst ging, nicht diese zu jenem. - Ich versicherte ihm beim Abschied: »und wenn er mehr hitzige Fieber bekäme als Haare und so kahl bliebe wie ein Enten-Ei, und wenn der Ranzenadvokat ein Winterfell von lauter Weichselzöpfen umbekäme: ich wüßte recht gut, wer morgen abends die schöne Eva hätte.«

Ich bekenn' aber der Welt, ich hatte nur die erste Hälfte eines Plans ausgebauet: die Risse und Baumaterialien der zweiten foderte ich dem Handlanger Zufall als Baufronen ab. Es ist gleich einfältig, alles und nichts dem Zufalle oder der Zukunft zu überlassen.

Ich ging spät ins Schloß zurück mit einem der auffallendsten Entschlüsse; dem nämlich, an einen Reichs-Kanzlei-Verwandten in Wien zu schreiben.

Mit einem Wort, ich tats am Morgen, eh' der Stadtrichter aufstand. Ich nenne den Namen nicht; aber da er weiß, was ich ihm unter dem Vize-Kanzelariat für Dienste erwiesen, so wär' es eine kleine Erwiderung gewesen, wenn er nur mit dem Wappeninspektor3) drei Worte darüber gesprochen hätte, ich meine nämlich über meine Anfrage, ob nicht der Kantor Schnäzler zum Reichs-Poeten (poeta laureatus) zu kreieren sei. Ich kopiere hier aus guten Gründen das ganze Schreiben.

»Hochedelgeborner,
Insonders etc.

Ich sollte wohl hoffen, daß Ew. etc. sich noch der fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen erinnerten, wovon eine von den erstem ein gewisser Richter aus Hof (der hier die Ehre hat, an Sie zu schreiben), und eine von den letztern Sie repräsentierten auf der Kölner Redoute. Denenselben hing damals noch ein zweiter, aus Weinreben gesponnener Flor vor den Augen; und über die gegenwärtige Jungfrau ließ seitdem das Schicksal viel schwärzere Nonnenflöre niederfallen. Diese schöne Zeit, Freund, ist mit allen ihren 10 000 Auen und Millionen Blumen nun wie ein Schatz unter die Erde versunken.

Um auf die Absicht meines Briefs zu kommen: so hoff' ich, Sie sind noch mit unserm alten Wappeninspektor in Konnexion und er am Leben, dessen Rat Sie in einer Angelegenheit einziehen sollen, die einen noch wenig bekannten Liedermacher, den trefflichen Schnäzler, Schuldiener in Obersees, betrifft. Dieser geistreiche Mann hat nicht nur aus alten Gesangbüchern alles, was aus den neuen weggelassen worden, vollständig ausgehoben und zusammengehäuft, sowohl einzelne Wörter als ganze Zeilen, sondern er hat auch - was wir wohl bei einer kastrierten Ausgabe lateinischer erotischen Dichter finden, in der hinten zwar alle anstößige Stellen stehen, aber isoliert, ohne in den geringsten Nexus gefugt zu sein - aus diesen weggeworfnen Stummeln, hölzernen Beinen und Krücken schöne Figuren musivisch zusammengelegt, von denen wohl jeder Deutsche sagen muß: »Das sind geistliche Lieder!«

Insofern wird es Sie weniger wundern, daß ich wirklich gesonnen bin, bei der Reichs-Hof-Kanzlei um die Reichs-Laureatur oder um die Würde eines gekrönten Poeten für Schnäzlern nachzusuchen - besonders da er eine eitle Braut hat, die ihn nicht will, wenn er nichts wird. Ich wende mich aber jetzt mit der großen Bitte an Sie, sich unter der Hand beim Wappeninspektor oder bei einem Reichs-Hofkanzelisten gütigst zu erkundigen, wie ich meine Supplik eigentlich zu machen habe. Ich kann mir die verschiedensten Formularien gedenken. Die Hauptsache ist: ich weiß nicht, was die Reichsgesetze zu einem guten Poeten fodern, da es zwei ganz entgegengesetzte Arten oder Wege gibt, einer zu sein oder seinen Ideen die Vergoldung zu geben, nämlich die im Feuer und die kalte. Zieht die Reichskanzlei die kühlende Methode vor? Das wäre gerade die von Adelung, der nicht ohne Vernunft die Pegasus-Reiter gleichsam zur Degradierung unter das prosaische Fußvolk steckt. Von einem großen Dichter dieser Gattung wird, glaub' ich, verlangt, daß er den Definitionen, die er versifiziert, die sich aber durch den Reim und durch das Metrum von prosaischen unterscheiden, eine solche Deutlichkeit erteilt, daß seine poetische Welt, fast wie die physische nach dem Diogenes von Apollonien, bloß aus frischem Wasser besteht - ein Bestandteil, bei dessen Schöpfung der Schweiß des Musensohns, so wie bei andern kalten Fiebern, nicht nur unschädlich ist, sondern auch gut und sogar kritisch, anstatt daß das Schwitzen des Musenvaters4) sonst nichts anzeigte als Niederlagen. Solche Gedichte können nie klar, hell und deutlich genug sein, wenn sie jener Kälte, die auch draußen an heitersten Tagen am größten ist, nicht Eintrag tun sollen, welche auf eine unschädlichere Art als der physische Frost die Neigung zum Schlafe belebt. Adelung sieht recht gut, wie nachteilig der erschlaffenden Schreib- und Kurart starke Bilder und Flügel sind - wenigstens bringt der Leser die lebhaften Ideen in den erbeuteten Schlaf mit hinüber und gewinnt nur einen mit Träumen durchbrochnen, auffahrenden. - Daher dringt er so sehr auf Klar- und Planheit, gleichsam auf eine heitre Luft, die zu dünn ist zum Fluge. Kommt es vielleicht daher, daß in der Mythologie den Wagen des Tages flügellose Rosse ziehen und den der Nacht geflügelte? - Es tut überhaupt schon Schaden - denn es weckt -, daß man ein kühlendes Gedicht nicht ganz und gar aus reinen Reimen und Füßen machen kann, ohne Einmischung der geringsten Idee, wiewohl doch die bouts rimés und die über Verse gestellte leere Metra die Möglichkeit eines solchen Ideals zeigen. Silbenmaß und Reim aber ist in dieser edlern Prosa nicht nur kein Fehler, wie in der gemeinen Küchenprosa, sondern sogar eine wesentliche Schönheit und die größte. - Versichert mich nun der Wappeninspektor, daß die Reichs-Hof-Kanzlei hierin dem Herrn Adelung nach- und beitritt: so darf ich Schnälzlern als einen solchen kühlenden Poeten aufführen, als einen Vergolder mit ästhetischem Mattgold. Herr Rat Adelung behauptet zwar, dieses schöne kühle Zeitalter der deutschen Dichtkunst habe bloß von 40 bis 60 gedauert; er ist aber leicht mit meinem Schnäzler zurückzuschlagen, der noch lebt und das Muster der schlaffen Gattung nicht bloß darum ist, weil er unter solche geistliche Liederdichter gehört, die als figürliche zwitschernde Heuschrecken um die lutherischen Altäre in Gesangbuchs-Käfigen wie physische um die spanischen gehangen werden, sondern vorzüglich, weil er - anstatt daß jene kühlen Dichter ihr Frostwetter mit lauen Strophen unterbrechen und verderben, wie in die Winter schädliche warme Tage fallen, die die Bienen aus dem Winterschlaf reißen - sich niemals ungleich wird, wobei ihn freilich das meistens sinnlose Zusammenlegen des zerstreuten Auskehrigs sichtbar unterstützt. Einige solche Lieder dürft' ich dem Gesuche anbiegen.

Es könnte aber sein, bester Freund, daß das deutsche Reichs-Oberhaupt oder die Reichs-Hof-Kanzlei mit den Kraftgenies einverstanden wären, die nicht zur schlaffen, sondern zur straffen Gattung gehören und die auf glühenden Pflugscharen sowohl die Feuerprobe aushalten, als damit das Feld bestellen. Das wäre mir unangenehm und ein fataler Streich. Denn Schnäzler hat mit dem Phöbus, der ins glühende Zeichen des Krebses tritt, geringen Verkehr, er hat von Dichtern wenig, die in den Beinschellen des Metrums doch mit ungebundnen Flügeln steigen, wie Saturn seinen gefesselten Füßen mit offnen Flügeln nachhilft, ja er ist nicht einmal imstande - er würde vergeblich ansetzen -, es nur zu einiger leidlichen Dunkelheit der Gedanken zu bringen, mit der immer Größe derselben verknüpft ist, wie am Himmel die Planeten die größten sind, die sich von der Sonne am meisten entfernen. - Eh' er sichs versieht, ist er faßlich und zu kopieren. Da er inzwischen wenig Gedanken hat: so möchte ihm doch vielleicht ihr Zusammendrängen leichter glücken, da viele der besten straffen Dichter nicht sowohl Gedanken als Worte lakonisch zusammenpressen und ihren leeren Versen durch die Kürze ein eignes Feuer geben, wie der kalten, leeren Luft durch Verdichten die Kraft des entzündeten Schießpulvers zuwächst, oder wie ein engeres Gefäß schales Bier zur geistigen Gärung treibt. - Inzwischen würde wenigen Kanzleiräten ein solcher Beweis, daß der Schulmeister ein poetischer Selbstzünder ist, genugtun, wenn ich nicht den wichtigern Umstand - den ich durch ein medizinisches Attestat bescheinigen kann - zum Beweise seines Talents aufzuführen hätte, daß er das hitzige Fieber hatte und einen kahlen Kopf noch. Häupter aber, die mit Feuer und poetischen Goldadern durchzogen sind, und Berge, in denen beide durchlaufen, sind oben kahl und ohne Gewächse; und eine Glatze ist, wie beim Cäsar, der wahre klassische Boden des Lorbeers. -

Da jeder Supplikant, der Graf, Fürst usw. werden will, beweisen muß, daß er gräfliche oder fürstliche Einkünfte habe: so mach' ich mich schon darauf gefaßt, daß die Reichs-Hof-Kanzlei Beweise von mir fodern wird, daß Schnäzler ein Mann von poetischen Einkünften sei und daß er entweder das Armenrecht habe, oder sonst aus der Almosenkasse Gelder erhebe. Dies wär' an sich leicht darzutun; aber glücklicherweise wird mir der Erweis ungemein leicht dadurch gemacht, daß er zugleich ein Schulmann ist, dessen Verhungern ich bei der Kanzlei hoffentlich postulieren darf, da diesen Heiligen-Geistes-Tauben und den poetischen Singvögeln gleich wenig Hanf auf die Hanfmühle aufgeschüttet wird. Reichliches Futter macht aus Schwarzröcken Rotröcke, d. h. Kardinäle, anstatt daß umgekehrt rote Gimpel vom Hanfschmausen schwarze Federn kriegen. -

Ich erwarte allerdings von der Billigkeit der Kanzlei, daß sie mir nicht mehr für die Kreation abfodert, als die Kurmainzische Reichs-Hof-Kanzlei-Taxe-Ordnung von 1659 den 6. Jan. ansetzt, nämlich 50 fl. Taxe und 20 fl. Kanzlei-Jura, zumal da ich die Schöpfungs-Kosten aus meinem Beutel bezahle. Der Tax für die poetische Laureatur scheint mir überhaupt schon 1659 ein wenig hoch geschraubt zu sein, besonders wenn ich bedenke, wie viele Laureaturen und Dichter-Patente oder poetische Wappenbriefe bei den Rezensenten, die damit die Messen beziehen, für diese 70 fl. zu erstehen wären, und wie wenig eine Laureatur abwirft: denn die Augen unsers Publikums werden schon lange nicht mehr mit dichterischen Illusionen hintergangen, so wie den klugen Blinden gemalte blinde Fenster oder Türen nichts weniger als verblenden und betören.

Ich hoffe, daß Ew. noch im Hundsfottgäßchen wohnen und bin etc.«

*

Die Laureatin, Eva, stellte jetzt den Kaffeetopf neben das Dintenfaß, ohne im geringsten auf beider gelben Inhalt anzuspielen. Ich pries sie ins schöne Gesicht, daß sie sich einen solchen Sponsus ausgeklaubt, für den ich gerade nach Wien ein langes Schreiben erlassen hätte. Der Kronprinz und Großfürst Weyermann trat zu uns und sagte, zum Glück sei der Gerichtsdiener und Liktor angelangt - das Obersees muß sich bekanntlich mit einem geborgten Gericht behelfen -, und der Ranzenadvokat sei um 10 Uhr vorgeladen worden, sich zu sistieren. Alle Leute in praktischen Ämtern gewöhnen sich eine eigne, wenig schonende Härte gegen Gemeine an: er fuhr in Evens Beisein fort und meisterte sein zu hoch aufgeballtes Bette und referierte, er habe gegen 1 Uhr einen Fall daraus getan wie ein Quersack. Ich gestand, ich hätte mich leicht in meiner Bette-Empor und Montgolfiere erhalten, bloß dadurch, daß ich im Finstern die Nachtmütze statt eines Senkbleies in die Stube fallen lassen; - ich konnte aus der Zeit, die zwischen dem Loslassen und dem Auffalle der Mütze verstrich, leicht die ganze senkrechte Tiefe vom Kopfkissen zur Diele berechnen und mich dann aus Vorsicht an die Wand zurückziehen.

Allmählich liefen die Untertanen zusammen, die Weyermannen heute ihre Hand geben und damit versprechen wollten, getreu unter seiner zu stehen. Aber er warf schon, eh' er über die höchste Stufe zu seiner Thronspitze hinauf war, Privilegien und Permissionen aus, z. B. für Kirschen- und Pfeffernüsse-Weiber, denen er freies Feilhalten erlaubte. Dieser Ludwig XVIII. erließ an die Reichskinder seines Reichs von Aachen das schöne Kabinettschreiben, daß heute - wo alle Fässer liefen - auch die Orts-Feuerspritze in Gang, Fluß und Sprung gebracht werden sollte, wie in Frankfurt (bei einer viel wichtigem Krönung als der gegenwärtigen) ein Adler aus dem Doppel-Schnabel Doppel-Wein auf die Untertanen sprengt. Es sind doch vorläufige Exerzitien und Probeschüsse im Befehlen, einige Fahnenschwenkungen des Kommandostabs.

Freilich sind das bloße Komödienproben zur eigentlichen göttlichen Komödie; und sie werden noch kleiner, wenn man sie mit der ordentlichen Krönungsfeierlichkeit eines Gerichtshalters vergleicht, wo durch die Hand eines Mannes - unsers Weyermanns - sich vierhundertundzwanzig Oberseeser Hände ziehen, um Treue zu geloben, und wo ein Mensch 420 Schwüre einkassiert, ohne selber einen abzuleisten. Da seine Krönung und die Kirmes auf einen Tag einfielen: so kam sie durch den allgemeinen Volksjubel auch höhern Krönungen nahe, die keinen kleinern erregen. So goß auch die Athenerin auf den neuen Sklaven, wenn er zum erstenmal über die Schwelle trat, Früchte und Blumen nieder. Nero, Tiber und ähnliche Kaiser, die ihre Regierung mit einer sanften Debit-Rolle anhoben, unterschieden sich auf eine schöne Weise von Anfängern auf dem Theater, die gern Tyrannen machen, wiewohl mit der Zeit jene und diese gescheuter werden.

Wenn nach Kant der Hang zum sinnlichen Wohlsein die allgemeine Krankheit und der Knochen- und Tugendfraß der Menschen ist: so wirkt ein Gerichtshalter, der die Krankheitsmaterie abführen soll - durch tapfres Abstrafen -, und ein Fürst - durch noch größeres - freilich anfangs nur wie mehrere gute Arzneien, die nach dem ersten Gebrauch das Siechtum eher zu vermehren scheinen, das sie doch, wenn fleißig fortgenommen wird, am Ende wirklich aus der Wurzel heben. -

Um 10 Uhr wurde der Ranzenadvokat gerichtlich vernommen - und freilich der Aktuar, sein Nebenbuhler, vorher richtig vereidet. - Anfangs behielt auch alles seinen rechten guten Gang: Inkulpat gestand manches, seinen Namen, seine Herkunft, seinen täglichen Durchgang durch Schenken. Aber er versalzte uns alles wieder dadurch, daß er, als man näher auf die Blau-Siederei seines Leibes inquirierte, das besetzte Gericht deutlich auslachte und durch solches niederschreiben ließ, ob man denn so dumm wäre, daß man nicht blaue Flecke, die vom heftigen Faulfieber herkämen, woraus er gerade auferstanden, von dem Blau-Farbenwerk der Prügel an blauen Montagen zu unterscheiden wüßte. Das Protokoll mußte dieser Exzeption wegen auf der Stelle bis aufs nächstemal geschlossen werden. Indes hatte doch die peinliche Katechetik den Nutzen, daß Eva sich eines Kerls schämte, der vor dem sitzenden Gerichtsschreiber hatte stehen und reden müssen.

Der Gerichtsfron und Stadthäscher zitierte jetzt den Oberseeser Adjunkt - der Pastor war schon tot - ins Schloß, nicht zum Inquirieren, sondern zum Gastieren: seit vielen tausend Jahren wurde der Pfarrer allezeit an der Salat-Kirchweih ins Schloß invitiert. -

Vor dem Essen zeigte der Neugekrönte, ob er regieren könne: er befahl dem Stadthäscher, die Westenknöpfe der Biergäste in den Stadtschenken zu zählen und mit den Kreidenstrichen der Wirte zu konfrontieren, um hinter die Mäßigkeit der einen sowohl zu kommen als hinter die Ehrlichkeit beider. Bauern knöpfen nämlich bei jedem Kruge, den sie fodern, einen Knopf der Weste auf, damit sie der Kellermeister nicht bestiehlt. - Die Feuerspritze wurde vormittags, weil nachmittags auf dem Markte niemand Platz hatte außer der Volksmenge, wie eine Kanone, obwohl zum entgegengesetzten Zwecke, aufgefahren und abgedrückt, und der ganze Wasserschuß wurde von den einsaugenden Gefäßen eines Wagens aufgefangen, auf den ein Töpfer seine Töpfe so gepackt hatte, daß die Mündungen gen Himmel standen. Man konnte deshalb von Amts wegen nicht unterlassen, ihn zu monieren, künftig mit umgestürzten Töpfen zu Markte zu fahren, weil er sonst den Regen auffinge und den Wagen überlade. Ein einfältiger Tiroler, der seinen ganzen Kaufladen mit Bändern und Dosen aufgeschlossen auf dem Rücken trug, wurde von Amts wegen erinnert, das Seidengewölbe herumzudrehen und auf dem Bauche aufzusetzen, damit dem Dorfe keine Gelegenheit gegeben würde, ihm und seinem auerbachischen Hofe diebisch in den Rücken zu fallen. - Und noch mehr dergleichen oder nicht viel schlechtere Verordnungen. Von Pombal will man freilich rühmen, er habe beim Erdbeben zu Lissabon zweihundertunddreißig Verordnungen erlassen; aber für einen Ort, dünkt mich, der kein Erdbeben, sondern eine Kirmes hatte, verordnete der Gerichtshalter immer genug.

Das Brausen der Markt-Flut wurde allmählich lauter - die Frankfurter Pfeifergerichte wurden von immer mehrern Jungen und Pfeifschwänzen1) besetzt, und die Böttcherwoche, die schon den ganzen Morgen gewährt hatte, durfte der eigentlichen Meß- und Zahlwoche keine Zeit mehr rauben. - Der Stadtrichter holte durch vormittägige Schanzarbeiten zu nachmittägigen Kanikular-Ferien aus, um den Adjunktus zu genießen - und ich machte nichts - außer dem Plane - als einen Spaziergang unter das Volk.

Hier mußte man nun seine Aufmerksamkeit - so wie die kleine Münze - zuerst den Bettlern schenken, und ich ging den Gründen nach, aus welchen wohl alle gute Dorfpolizeien an Kirchweihen freies Betteln nie verwehren. Sie sind nicht ohne Gewicht. Die Bettler beziehen diese Messen der Dörfer als Kundmänner und erstehen darauf ansehnliche Partien von Kuchen, Broten, Lumpen, Hellern auf Kredit - Geld ist ein Warenartikel -; ja durch diese Meßleute werden oft dem angesehenen Kaufmann die teuersten Artikel, die er sonst behielte, z. B. Uhren, Geldbeutel etc., mit Vergnügen abgenommen. Der Handelskonsul, der Bettelvogt, schützt mit seinem Spieß diese Meßfremden beim Flor des Land- und Transito-Handels. Der zweite Grund ist vielleicht wichtiger: es wird nämlich leider wohl an keinem Tage mehr geflucht, gefressen, gesoffen, ge- und überhaupt die Kirche mehr entweihet als an dem, wo sie einzuweihen ist. Hier kann sich das Dorf nun keine halbe Stunde die Bettler und die Krüppel nehmen lassen, die dem Teufel das, was er erobert, dadurch wieder abjagen und abackern, daß sie die Gassen wie besoffen durchschweifen und vor jeder Haustür nichts Geringers verrichten als eine fliegende Gassenandacht und so den ganzen Ort, indem sie um einen Heller einen singenden Umgang halten, mit dem Feuer der Andacht illuminieren. Was will nachher der Teufel machen? frag' ich. -

Am Ende des Orts hielt mich ein Kerl an, der keine rechte Hand hatte und bitterlich weinte und sagte, er käme so um, weil er keine Hand - er streckte den defekten Arm aus - mehr daran habe, um sich sein Brot zu verdienen durch Betteln. Sonst sei er so glücklich gewesen, eine mit einem einzigen Daum - die Finger waren wie Schlesien im siebenjährigen Kriege daraufgegangen - zu führen und damit jedes Herz zu bewegen; aber mit einem bloßen Stummel habe kein Mensch Erbarmen. Ich sagte: »Bleib' Er stehen, ich helf' Ihm.«

Das konnt' ich gut. Ich hatte nämlich am Morgen die Gerichtsschränke durchstöbert, um irgendeine wissenschaftliche Trüffel unter diesem schmutzigen Boden auszuwittern: ich traf nichts Sonderliches an als im Fraischpfänder-Schrank zwei abgesottne, eingeschrumpfte Hände. Sie wurden sonst als Nachlaß solcher Kinder aufgehoben, die damit ihre Eltern geschlagen hatten und die solche immer aus dem Grabe heraushielten. Herr Dreyer2) zeigte aber uns Gelehrten insgesamt, wie es wäre und von wem die Hände kämen - von totgeschlagnen Leuten nämlich, denen sie der Ankläger sonst als Beweise und Exponenten des corpus delicti abschneiden müssen, worauf man sie von Gerichts wegen abgesotten.

Kurz ich holte aus dem Fraisch-Behälter das Händepaar hinweg und bot dem Invaliden eine davon als Lebens-Wickelschwanz (cauda prendensilis) zur Auswahl an. Ich unterrichtete ihn, es sei eine ehrliche Hand, wovon er alle Finger wegschneiden könnte bis auf den nötigen Diebsdaum; er könne sie an den Stummel stoßen und anschienen und so, weil sie so greulich aussehe, sich mit ihr so gut wie mit einer Hand aus den Wolken oder mit einer langen königlichen recht wohl forthelfen und vorspannen. Er steckte das Fraischpfand zu sich.

Eh' ich weitergehe in der Geschichte, will ich eine Digression anpichen, einen Appendix an den Appendix, ein Allonge an den Wechselbrief. Es ist fatal, daß mir jedes Wort, jede Behauptung und Untersuchung - und wär' es die, ob es einen Teufel gibt - seit einigen Jahren unter den Händen zu einer Geschichte wird. Auf der einen Seite kann man allerdings über philosophische Pillen und Magenmorsellen kein besseres Silber als das historische ziehen, wie Bahrdt in Halle Kirchengeschichte las, um seine Dogmatik einzuschwärzen; aber auf der andern seh' ich nicht, was mir die berghauptmannschaftliche Konzession, die ich mir am Schalttage endlich ausgewirkt, nämlich nach Gefallen auszuschweifen und zu scherzen, nur im geringsten helfen soll, wenn ich zu jedem frischen Scherze um eine neue Konzession nachsuchen muß und wenn alles dem Leser in meinen Historien lieber ist als das, womit ich solche störe. Wahrhaftig, mitten im Appendix muß ich hier die Digression wieder durch eine besondre Überschrift, durch ein gare, Vorgesehen, Kopf weg usw. warnend signieren.

Die Bettler sind die wahren Barden jetziger deutscher Nation.

Ich fange nirgends an als beim Erweise. Die alten Barden zogen bekanntlich mit in jeden Krieg - wie in neuern Zeiten oft der halbe parisische General-Stab, wenn er die Gunst der Musen und der Pompadour hatte -, weniger um zuzusehen, was es auf dem Schlachtfelde zu bekämpfen als zu besingen gebe: auf der Davidsharfe trugen sie nachher die ganze Schlacht wieder vor in einem offiziellen poetischen Bericht. - Die Bettler des achtzehnten Jahrhunderts dienen nun als Gemeine und Unteroffiziers in den wichtigsten Treffen, die wir haben: das setzt sie in den Stand, auf dem Schlachtacker alles zu summieren, was noch - außer der Schlacht - verloren wurde, nämlich Köpfe und Beine. Dann erwartet man von ihnen, daß sie, wenn ihnen nichts weiter weggeschossen worden als die Letztern, in den Wirtshäusern an Pflicht denken und einige Gläser Branntewein fodern - der Staat reichte ihnen vorher durch seine Glieder die Gelder dazu - und den Umstehenden erzählen, wie es herging in der Schlacht bei Wetzlar, bei Wien, bei Regensburg, bei Potsdam. - Da der römische Stuhl keine hölzernen Beine weiter hat als dessen seine, der sich auf ihn setzt: so kann ein gegenwärtiger Straßen-Barde auf nicht mehr verholzten Beinen zu stehen verlangen, als den heiligen Vater selber tragen.

Die Skalden - nördlichere Barden - behielten sonst ihre Beine; aber sie hatten es einer schirmenden Gurt von Jünglingen, Skaldaburg genannt, Dank zu wissen, die sie in jeder Schlacht umstellte. Jetzt bestehen die schirmenden Jünglinge (Bettler, Krieger, Barden) aus niemand als aus den beschirmten selber.

Der Ladenmeister der Skalden, der blinde Homer, deklamierte vor den Türen die älteste Ausgabe seiner Gedichte und war selber der Kollekteur seines Honorars bei den Abonnenten, die er anbettelte. Neuere blinde Jungmeister der Skalden singen vor den Fenstern des Publikums an einem waagrechten Stabe - wie auf einem die geblendeten Finken, und die homerischen Rhapsodisten an einem bleirechten1) - gute Gelegenheits-Gedichte ab und schieben von außen kleine Kanzel-Lieder in die Kontrovers-Predigten ein, die man innen in den Häusern hält. Das Band, das einen frohen Dichter an die Menschen knüpft und das oft ein ehliches wird, ist der horizontale Stock, den der Blinde und die Frau an entgegengesetzten Polen halten, wiewohl in großen Städten (Paris, London) statt der copula carnalis ein Strick und statt der Frau ein Hund führt, den man einen edlern Nachdrucker nennen kann, weil er den Dichter, wie der unedle die Gedichte, unter die Leute bringt und ihn dem Brote entgegenzieht, das ihm der andre entzieht. Glaubwürdige Hegebereiter und Bettelvögte haben mich versichert, daß Frauen keinen Mann lieber führen als einen blinden und daß sie sich untereinander um den erledigten Posten einer Führerin raufen und zanken. Sie überzeugten mich durch zwei Ursachen, die sie davon angaben: erstlich bettelt einer, der von seinem grauen Stare lebt und der Panist und Apanagist seiner Augen ist, weit mehr vom ebenso blinden Glück und Pluto zusammen als ein andrer, der sehen muß - zweitens hat eine solche Cicerone, da sie dessen Regie und Hebungsbediente ist, Hoffnung, ihm seine Revenüen halb zu stehlen, weil er wie mehrere Blinde nehmen muß, was ihm das Mautamt aufzählt. Um so weniger sollten solchen Barden, die so unermüdet ihren Ruhm und Unterhalt vor den Türen suchen, eben die Berliner Bibliothekare wedelnd nachschleichen, die sich den Namen Bettelvögte, Hegebereiter geben: Vögte, Reiter dieser Art greifen immer, wie so viele der kritischen Menagerie, nicht sowohl den Gesang als aus den Menschen an.

Ich finde in Troils Reisebeschreibung, daß sonst die alten Barden in Irland ganze Strecken Landes geschenkt bekommen haben und daß im 6ten Jahrhundert ein Drittel des irländischen Volks aus Barden bestanden. In den neuern Reiseberichten treffen wir (hoff ' ich) im nämlichen Irland dieselbe Anzahl Straßen-Barden an, desgleichen im Kirchenstaate, in Bayern und in den blühendern Kreisen von Deutschland, worin dichterischer Geist gewiß noch nicht so erloschen ist, daß nicht jeder Gerichts- und Kirchensprengel einige Familien solcher singenden Nomaden sollte aufzuweisen haben. Der Verfasser dieses Appendix bildet sich überhaupt ein, er dürfe hierin seiner bisherigen Methode, das singende Deutschland zu zählen, vertrauen und sie manchen andern, selber von Schmidt und Meusel, vorziehen: er tut nämlich, wenn er durch Staaten reitet, wo der Thron ein Helikon voll peripatetischer Dichter und Barden ist, einen Schwur, jedem Volksdichter nicht mehr zu geben als einen Pfennig, zählt aber vorher sich für einige Taler (pr. Courant) Pfennige richtig ab. Ist er nun durch den Staat geritten, so subtrahiert er den Rest und weiß, wenn z. B. 2 Rtlr. (pr. Cour.) aufgingen für die Bettelvolks-Liste, daß 840 Sänger (oder Sängerinnen) darin hausen. - Es ist nicht die Schuld der Fürsten, wenn es nicht in allen Ländern eine hinlängliche Anzahl solcher Troubadours und Gassen-Skalden gibt: sie tun, was sie können, und muntern auf. Sie räumen und leeren für Skalden zu Wohnsitzen ganze Länder aus - sie ernennen selber fähige Köpfe zu solchen Gassen-Laureaten, wie die englische und die deutsche Krone Stuben-Laureaten kreiert - sie legen Kasernen als Skalden-Seminarien an, aus denen wie aus delphischen Höhlen und bureaux d'esprit mit der Zeit die einzigen Meistersänger hervorgehen, die wir noch sehen, und sogar ihre Kinder werden schon zu den schönen und redenden Künsten angehalten: wie bei den Römern, so wird bei den Deutschen allezeit erst nach der Kriegskunst die Dichtkunst getrieben und geschätzt. Ja, wie Ludwig XIV. sogar ausländische Dichter und Gelehrte salarierte, so lassen die bessern Fürsten die gedachten Barden, wenn sie auch nicht einheimisch sind, zwölf Monate lang im Jahre auf öffentliche Kosten speisen - die Gasse ist das Prytaneum -; hingegen von den alten Barden in Irland erzählt der gedachte Troil, daß sie jährlich nicht mehrere Monate freien Tisch genossen als sechse.

Man muß sich aber als unparteiischer Patriot doch nicht verbergen, daß, ungeachtet aller Vorkehrungen weltlicher Fürsten, die geistlichen und überhaupt die katholischen Staaten mehr Barden teils erwecken, teils erobern als die besten andern. Und die Ursache ist nur gar zu klar. Haben wir Mönche und Priester (wie jene), die durch Kirchen-Opermaschinerie, durch ihre Aktion, durch ihre Gemälde übersinnlicher Welten jede Phantasie in Flug zu bringen wissen und jeden Barden mit Frau und Kind in Gang? - Zweitens kann der Katholizismus - der eben deswegen irdische Glückseligkeit unter die Kennzeichen der wahren Kirche setzt - durchaus nur in feister Garten- und Modererde Wurzel fassen: ein Mönch ist daher ein ebenso gutes Zeichen eines fetten Bodens als ein Regenwurm, und Ökonomen wissen, daß Abteien und Maulwurfshaufen fruchtbares Land ansagen. Die Poesie war aber von jeher die Tochter und Erbin des Überflusses und Luxus, im alten Rom, im neuen Rom. Mithin ist schon die Fruchtbarkeit und der Reichtum der katholischen Länder allein hinreichend, uns die große Volkszahl ihrer Straßen-Barden - die wohl auf eine sehr unschickliche Art den Namen Straßenbettler führen - erträglich zu erklären. Nur ein Land, das reich genug ist, solche Barden hervorzubringen, ist wohlhabend genug, sie zu ernähren; die Fruchtbarkeit eines Tiers in irgendeinem Erdstriche sichert zu, daß es da Kost genug finde, und sogar die Heck- und Wurfzeiten jedes Viehes müssen stets in die Monate seines reichlichern Futters treffen.

Bei den kymbrischen Starosten und andern Honoratioren gehörten die alten Barden so gut zum Hofstaat als jetzt Livreebediente. Der König von Wales hatte seinen Hof-Barden, dem er beim Regierungs-Antritt eine Harfe schenken mußte - die Königin indes einen Ring. Aber noch führen Woiwoden - Hospodars - Reichspröpste - infulierte Äbte und auch simple Landsassen Straßen-Barden, als Suite ihrer Macht, um und neben sich und strecken diesen durchsichtigen Schweif aus ihrem festen Kometenkern aus: denn überhaupt kann ein Gefolge von reichen Lakaien wohl vorzeigen, was der Prinzipal (an sie nämlich) gegeben und verloren hat, aber nur eine Suite von Lazarussen kann vorzeigen, was er (von diesen nämlich) genommen und gewonnen. Und aus dem Letztern allein ist doch erst Überfluß und Macht ersichtlich. Ich wußte daher, was ich sagte, als ich mehr als einmal bei fürstlichen Festins, Feuerwerken und Operndekorationen, wenn ich sie gelobt hatte, gegen Umstehende die Anmerkung machte: »Von dieser Pracht haben wir immer eine zu geringe Idee, sobald wir von den Kosten derselben keine deutlichere bekommen und solche falsch taxieren - wir müßten aber ganz anders und höher vom Aufwand denken, wenn uns in einiger Entfernung vom erleuchteten Triumphbogen alle Haus-Barden, Straßen-Barden, Gläubiger, Insolvente, Seufzende und Weinende in einen Klumpen oder Chorus zusammengetrieben gewiesen würden, die das prächtige Fest gekostet hat.« -

Beim ersten Anblick fällt es Denkern auf - wenigstens erging mirs nicht anders -, daß unter so vielen Gelehrten, die vielleicht sämtlich ihre Rechte und Titel zu Panis- oder Bettelbriefen haben, und deren Verdienste gar wohl zu einer solchen Minuten-Gage befugen, gleichwohl nur die Straßen-Barden, die geistlichen Dichter und Sänger, so glücklich sind, vom Lese- und Hör-Publikum von Tage zu Tage pensioniert und gespeiset zu werden und von ihm Pränumerationsgelder einzutreiben, indes sie doch selber nichts machen, sondern nur die Verse edieren. Das Faktum an sich ist wohl ohne Zweifel: denn ich brauchte die Vorsicht, jeden solchen Konviktoristen des Publikums, wenn ich ihm seine Gabe gereicht, auszufragen nach Namen und Gewerk; ich erinnre mich aber nicht, daß Numismatiker, Orientalisten, Feudalisten, Zivilisten, Fürstenerianer, Pathologen, Doktoranden, Fakultisten darunter standen, nur selten ein sogenannter Bettelstudent. Die Auflösung ist nun die: die Dichtkunst ist (solls wenigstens) für das ganze Publikum, nicht für Teile desselben, und der Straßen-Skalde verdient daher auch die Erkenntlichkeit des gesamten Publikums auf einmal, das ihm die Ehre nicht mit Recht verweigern kann, sein eigner Pfennigmeister zu sein und jede Stadt als seine Legestadt anzusehen. Hingegen andre Gelehrte, z. B. Philosophen, Orientalisten, die nicht dem ganzen Publikum, sondern nur einzelnen Gliedern dienen, welche sich gerade mit demselben Zweige des Wissens befassen, haben an jenes Familienstipendium der poetischen Talente, das ein Homer, Camoens, Dante genoß, keinen gerechten Anspruch zu machen, außer in dem seltnen Falle, wenn die Intension langer, alter, wiederholter, anerkannter Verdienste so groß wäre, daß sie der Extension der dichterischen gleichkäme. Dann mag ihnen verstattet werden, so gut zu betteln - wenn ich diesen rohen Ausdruck brauchen soll - als irgendein großer Poet......

*

Endlich erschien der Adjunkt, Graukern betitelt. Er würde mir mehr gefallen haben, hätt' er seine grauen, frechen und schneidenden Augen und seinen rohen zerfransten Lippenwulst zu Hause gelassen. Ich hatte besorgt, meine Kammerherrnknöpfe und der Ordensstern würden ihn blenden und verwirren und aus der Fassung werfen; aber er blieb beinahe auf Kosten der meinigen in seiner und hatte - da sonst Universitätssitten so elend sind wie die Universitätsbiere - ganz andere. Er kann einmal bei einer großen Dame dadurch Anstand gewonnen haben, daß er ihre Kinder - mit Blumenbachs Bildungstriebe - bilden half. Ich hätte das seidne Halstuch darum gegeben, wenn ich kein Seraphinen-Ritter gewesen wäre: er weiß, wen er vor sich hat, sorgt' ich.

Gegen zweideutige, peinliche Spionen kann man keinen bessern Gyges-Ring der Unsichtbarkeit verkehren als den Zirkel der Ironie und Laune, die, mit Wärme vorgetragen und mit Wahrheiten durchschossen, den Deutschen irre machen: man kann auch jede Sache, wie Sokrates, auf allen Seiten anleuchten und scheinbare Widersprüche sagen, die den Denunzianten des Innern in wahre verwickeln.

Der Adjunkt fragte mich bald mit wahrem Interesse über Schweden, über die Landmacht, über Strengnäs, Brömsebro und Sawolax; ich als eingeborner Schwede bestätigte vieles, was Büsching hatte, und beglaubigte so den Geographen nicht wenig. - Ich hing aber an meine Angelschnur Theologie und Ökonomie zugleich, damit der Hecht nicht länger nach meinen Seraphinenköpfen schnappte. Der Raubfisch lief dem Angelhaken voll konsekriertem Köder nach. Er sagte, die Gleichgültigkeit der Fürsten gegen alle Religion sei schuld, daß andern Seelen die ihrige genommen und dafür eine neue wie Blattern eingeimpft würde. Ich wollte anfangs aus Ironie die Partei der Fürsten nehmen und ihre Religiosität erheben; aber mir fiel die Bemerkung von Spittler ein, daß der Ausbreitung des Christentums nichts so zustatten gekommen sei als die damalige Gleichgültigkeit der römischen Kaiser gegen Religion und Staat. Ich sagte dem Adjunkt, seine und die spittlerische Bemerkung wären in seinem Kopfe ein Widerspruch, in meinem nicht. - Er verwarf die Preßfreiheit; ich stimmte bei und sagte: »Ein guter Staat stellt das Denken und Betteln ab, aber nicht auf einmal. Villaume sagt, er gewöhne Zöglingen, die falsch in der Karte spielen, vorher das falsche Spielen ab, und erst dann räum' er ihnen das Spielen überhaupt aus der Seele. So reutet ein Staat, der die Seelen zu bevogten hat, anfangs nur das irrige unkirchliche Denken aus, eh' er alles Denken überhaupt wegschafft. Daher kann er vor der Hand den Feinden der Religion keine andre Anfälle darauf verwehren als die unbescheidensten oder spöttischsten.« Ich wurde ganz irre, als der Adjunkt versetzte: »Nein! entweder keine oder alle Anfälle, selber die unbescheidensten, müssen verstattet werden. Denn die Religionsspötter können sagen, es müßten also unbescheidne und spöttische Anfälle auf sie ebensogut den Orthodoxen durch die Zensur verboten sein, sonst wäre man parteiisch.« - »Sie meinen,« (sagt' ich) »ein Spötter könne sagen, die Unbescheidenheit der Prüfung gebe nur den Vorwand des Verbots der letztern selber her, so wie ein guter Freund, den der andre gutmütig tadelt, die Erbosung über die Rüge mit dem Tone der Rüge entschuldigt; haben Sie anders gemeint, Herr Adjunkt?« -

Ich und Graukern wurden inzwischen durch wechselseitiges Aufpassen einander immer widerlicher: ich kann gar nicht sagen, wie fatal, grell und steinig mir, wenn gerade Eva ihr schönes, stilles Gesicht ohne alle Linien als die lächelnde um die Tafel trug, das adjungierte erschien. Mit jungfräulicher Unbefangenheit macht ein männliches Fiskalatsgesicht einen verdammten Abstich. Ich erzürnte mich und legte den Kopf an die Stuhllehne und sagte zur Stubendecke: »Ich und Sie, Herr Graukern, sind ein Paar Köpfe voll Licht und passen darum - schlecht zusammen: in der großen Welt ists mit den Menschen wie mit den Schiffen, die zu nachts darum Lichter (die Seeleuchten) haben, um auseinander zu bleiben und nicht aneinander zu scheitern. - Ich wollt', es wäre mit den Köpfen wie mit den Wägen, worunter allemal die leeren den vollen ausweichen.«

Ach! der arme Torsaker weiß die Wallungen seines satirischen Venensystems selten zu besänftigen - er müßte denn, statt zu sprechen, nur schreiben, wo er sich (glaubt er) bisher so bezwungen, daß er in der Tat die Kunstrichter auffodert, ihm einen einzigen satirischen Einfall in allen seinen Werken nachzuweisen.

Der Stadtrichter trank und fragte nach nichts; ich, jede Minute in Sorge, Graukern entsinne sich, in Scheerau einen Advokaten von meiner Gestalt gesehen zu haben, durfte meinem Stande nach wenig oder keinen Hunger haben und merkte auch an, die Großen sollten in der vierten Bitte nicht um tägliches Brot, sondern um täglichen Heißhunger anhalten und um einen neuen Magen und Adam miteinander. Graukern trank wenig; ich pries das Gegenteil, brachte bei, daß der Kaiser Wenzel zwar der Stadt Nürnber für 4 Fuder Bacharacher Wein die Freiheit geschenkt, daß es aber zehnmal gescheuter gewesen wäre, wenn die Stadt die 4 Fuder selber ausgetrunken hätte, weil der Wein den Menschen ein paar Freiheiten auf einmal gibt, Preßfreiheit, Maskenfreiheit, akademische und poetische Freiheiten. Es schlug nichts an: Graukern dachte, wie es in den Gerichtsstuben sonst eine Durst-Folter gab, um dem Durstigen Bekenntnisse abzuzwingen, so geh' es in dieser eine Trink-Folter, die noch mehrere ablockt.

Ja er marschierte gar fort, sagte aber, er komme wieder und hole bloß die Hamburger Zeitung her, die nunmehr die Kirmesleute in der Pfarre müßten abgegeben haben. Mir war, als würd' ich vom Schrecken in ein Kühlfaß geworfen: denn dunkel entsann ich mich, in der Hamburger Zeitung mehr einen Steck- als Belobungsbrief vom Herrn Seraphinen-Ritter v. Torsaker gelesen zu haben. »Ein gescheutes Männchen!« sagte der Stadtrichter. - »Dümmer oder klüger«, sagt' ich, »sollt' es sein. Der Adjunkt gehört unter die Geistlichen, die sich früher rechtgläubig anstellten und logen, um ordiniert zu werden, die täglich predigen, daß Christus für die Wahrheit starb, indes sie für die Lüge leben, die aber am Ende intolerant gegen die werden, die ihnen im Glauben, aber nicht im Sprechen ähnlichen. Ich setze meinen Stern zum Pfande, so wie einige Philosophen von ihrem Gott behaupten, die Schöpfung der Welt habe nicht die kleinste Änderung in seinem Wesen gemacht, daß ebenso der Adjunktus die wärmste Predigt erschaffen kann, ohne die geringste Änderung in sich zu erleiden. Unter allen Menschen wird es keinem so erschwert, sich für schlimm zu halten, wenn ers ist, als dem Geistlichen: seine heiligen Reden sieht er für heilige Werke an, seine Bußpredigten für Buße, seinen Priesterornat für den neuen Menschen, den er angezogen. Graukern nimmt sich noch dazu für einen göttlichen Gesandten und Botschafter: als Envoyé hat er folglich, wie andre Ambassadeurs, seine eigne Gerichtsbarkeit, Freistätte und seinen eignen Gottesdienst, nicht aber die und den des Volks, an das er abgelassen ist.«

Und doch ist Graukern noch leidlich daran; aber wenn ich über die armen Seelen-Heloten in der Schweiz (s. Spittlers Kirchengeschichte) nachdenke, die nach der formula consensus helvetici darauf verpflichtet werden, daß die Vokalpunkte der hebräischen Bibel vom heiligen Geiste eingegeben worden: so bejammer' ich den redlichen Mann, in dessen wundem Herzen sich täglich die schneidende Wahl zwischen der Lüge und der Hungersnot erneuert. O ihr grausamen hebräischen Atomisten! ist denn das unaussprechliche Glück, oder doch eine Vorstellung davon, wenn man zwar die Vergangenheit, aber doch nicht die Zukunft zu bereuen hat, so wenig in eure harte rohe Brust gedrungen, daß ihr fähig seid, diesen warmen vollen Himmel, nämlich den Vorsatz einer künftig-reinen Tugend, einem redlichen Geistlichen wegzureißen und ihn durch Hungersnot zu zwingen, daß er, nach tausend der Tugend und Wahrheit herzlich gern gebrachten Opfern, doch jeden Morgen seufzen muß: ach! beide verrat' ich, solang' ich die Göttlichkeit der Vokalen bezweifle und doch beschwöre und verbreite? O wie viele harte Kämpfe im Todesschweiße, wie viele bittre Tränen der frömmsten Herzen liegen auf eurer Seele, ihr, die ihr das reine Gewissen selber in das Marterinstrument einer schwachen Brust verkehrt und die ihr der Reue befehlt, nicht bloß die Erinnerungen bitter zu machen, sondern auch die Entschlüsse! - Ists denn überhaupt nicht schon genug, wenn ein Mann sich anheischig macht, die hebräischen Konsonanten, und also zwei matres lectionis, die wenig von echten Vokalen verschieden sind, für göttlich zu erklären? Behilft sich nicht die ganze orthodoxe Judenschaft mit Bibeln ohne punktierte Arbeit? - - Ich bekenn' es, in einem solchen Falle bemerkt man den Abstich fast mit Vergnügen, den hier gegen die Kantons und ihre formula consensus helvetici unsre deutschen Kreise, der obersächsische, der fränkische usw., machen, die alle eine Konkordien-Formel beschwören, worin auf die inspirierten Vokalpunkte - diese Blasen brennenden Sied- und Vokalpunkte des Gewissens - gar nicht sehr geachtet wird......

Ich sagte zu Weyermann: »Der meergrau-äugige Graukern hat sich abgeschlichen und kömmt gewiß nicht wieder« - als er wiederkam mit einem Tabaksbrief voll Zeitungen. Er teilte sie aus und nötigte mir die erste Nummer der Chronologie wegen auf. Ich schielte gegen die Avertissements, und mein Blick fuhr in eines - der Teufel muß gerade seinen Geburtstag gefeiert haben -, das einen gewissen Avanturier, der den Namen Torsaker und die Seraphinenkette diebisch führe, kanonisierte und baronisierte.

Um mich zu fassen, las ich langsam die ersten Zeitungsartikel - um froher zu Werke zu gehen und um den Adjunktus zu verwirren, erdichtete ich scherzhafte Avisen. Z. B. ich las daraus folgendes:

»Sachen, so gesucht werden.

Ein junger Mensch, der parlieren, gerben, ausbälgen, unterschreiben und befehlen kann, der schon bei vielen vornehmen und niedrigen Damen in Diensten gestanden, der gut tanzt, fährt, außerdem Geschmack hat in schönen Künsten und der ganz gesund ist (sitzen kann er übel), dieser Mensch, wovon das Zeitungskomptoir mehrere Nachricht gibt, sucht einen - Thron.«

Graukern spitzte sich auf mein Erstarren vor dem Avertissement. Ich schob seine Teufels-Schäferstunde immer hinaus; und machte mir eine Buchhändler-Anzeige zunutze, um mich zu wundern, daß die Bücher nicht, anstatt von ihren Verfassern, die immer parteiisch im Loben sind, und anstatt von ihren Rezensenten, die es im Tadeln sind, nicht lieber von ihren Verlegern, die gleichsam zwischen beiden das Mittel halten, angepriesen werden.

Ich fass' es heute noch nicht, wie ein leichter Vorschlag, den damals kein Verleger hörte und auffing, wenige Jahre darauf mit allgemeinem Beifall realisiert wurde. Jetzt sind, hoff ' ich, die Buchhändler-Anzeigen ebenso häufig als sonst selten, worin der Verleger seine Autoren, die er aus Feinheit nicht ins Gesicht lobt, doch hinter dem Rücken vor dem Publikum erhebt, wenn nicht aus historischem, doch aus seligmachendem Glauben. Die Liebe, die Buchhändler für Kinder - obwohl nur literarische - beweisen, ist, wie die Liebe gegen andere Kinder, das Zeichen eines guten Charakters; ja ist ein solches schon eine Lese-Leiche, so ist es schön, daß sie dem Gebote Solons folgen und von Toten öffentlich nichts als Gutes sagen. Oft legen sie - nach der französischen Regel, die das Zuschreiben mangelnder Tugenden für den feinsten Tadel hält - mit schöner Ironie dem Buche öffentlich gerade die Vorzüge bei, die ihm, wie sie glauben, fehlen. Ja, mancher ist imstande, das Buch eines Autors, der sich mit ihm als Mensch überworfen, recht zu erheben und nicht am unschuldigen Kinde die Sünden des Vaters zu strafen - so sehr sondert er, ungleich dem Kritikus, den Menschen vom Autor und will lieber das Buch seines Feindes, das er im Verlage hat, zu sehr und wider seine Überzeugung - er kann sich nicht trauen - loben als wenig. Noch aber gebricht uns eine neueste allgemeine deutsche Bibliothek, von einem Buchhändler verlegt und von allen verfasset.....

Als ich dem Diplome des Seraphinen-Ritters in der Zeitung begegnete: rief ich ein langes französisches ahhhh! und reichte das Blatt Graukern: »Lesen Sie vor«, sagt' ich.

»Es wird zu jedermanns Warnung bekannt gemacht, daß ein gewisser Landläufer, der sich für einen Herrn v. Torsaker und für einen Ritter des Seraphinen-Ordens und für einen schwedischen Kammerherrn fälschlich ausgibt, und der leicht an seiner kurzen Statur1), schwarzen Haar2), roten Gesichtsfarbe3), dicken fetten Leibe4) zu erkennen, ein ausgemachter Betrüger ist, der schon etc. etc.«

Weyermann war halb tot und ganz stumm. »Glauben Sie mir, Herr Adjunkt,« (sagt' ich) »ich hatte gute Ursachen, den Falsarius, der sich meines Namens, Wappens, Sternes und Schlüssels anmaßte, ohne Schonung in die Hamburger Zeitung setzen zu lassen. Sagen Sie selber, Herr Gerichtshalter: ging er nicht drei Wochen in Scheerau herum und gab sich so lange für mich aus, bis ich selber auftrat? Es ist freilich frappant. Ich fürchte nur, er hat an noch größern Höfen meinen Namen ungemein kompromittiert und meinen Taufschein zu seinem Entree-Billet verbraucht.«

Der Adjunkt erschrak - verstummte - glaubte - und versank vor Torsakern. - - Sonderbar! seit meinem Siege liebt' ich ihn mehr und meine humoristische Rolle viel weniger. Beschämt - darüber, daß die Scherzlüge sogar ein schmales Feigenblatt ist, das selber ein zweites bedarf, wiewohl sie doch besser ist als die Notlüge, weil es keine andre Lügen gibt als Lügen in der Not und keine Laster als Notlaster - beschämt über alles, entsprang ich ins Freie. Mich ekelte der teure optische Betrug. Ich suchte das Standquartier des Einhändigen auf: er war verschwunden wie seine Hand. Jetzt wurde auf einmal ein langer Schleier aus Trauerflor über meinen innern Menschen geworfen, als ich von der lachenden Bühne in die weite trat, über die sich die blaue Himmels-Halbkugel, mit Lerchen und Schmetterlingen statt der Sterne gefüllt, herüberbauete und auf der grünende Berge, blühende Felder und reife Auen als große Säemaschinen standen, die dem Menschen Saaten und Ernten in die Hände warfen. Hinter meinem Rücken bezeichneten kleine Töne die engen Zauberkreise der Lust, die eine frohe Jugend um die Achse des Maienbaums beschrieb. Eine solche Nachbarschaft hinter der vorigen Stunde nimmt dem Menschen die komische Larve ab und hängt ihm den ernsten Nonnenschleier über.

Ich streifte auf geradewohl über gemähte Raine und durch kleine, wie aus Waldungen ausgeschnittne Gruppen wie Kränze. In einer solchen transparenten Holzung lag ein Mensch auf dem Gesicht und neben ihm ein braunes Pudelhündchen. Ich dachte, er schliefe; aber als ich mich bückte und ihm unters Gesicht schauete, waren die Augen offen, aber erstarrt und auf ewig blind. Ich langte nach dem rechten Ärmel und dem Puls darin, aber letzterer war samt dem rechten Arme heraus. Es war ein Bettler, der vermutlich wie andre auf die Oberseeser Kirmes ziehen wollte und der schon seit gestern so still daliegen mochte, denn das Hündchen hatte den ganzen Bettelsack mit dem Mußteil darin schon beerbt und ausgekernt. Es blieb, als ich seinen Herrn sanft umwandte, wie ein amerikanisches schweigend daneben liegen und trieb mich nicht zurück, ob es gleich die Leichenwache hatte: ich kann mirs denken, abgetragner Pudel, wenn man gleich dir so arg verwundet und zerstoßen wird als ein Edler in einem Roman, so bellt man niemand mehr an und unterscheidet sich vom fetten bissigen Schoßkläffer: in den Rücken eines solchen armen ausgestreckten Hundes drückt das Schicksal die längsten Stacheln, und er murrt nicht, sondern wedelt nur.

Nein, weder der rührt mich am meisten, der, überzogen vom Schlangengifte des Schmerzes und leichenblaß umgesunken, unter den Stichen schreiet und fortwimmert - noch der, welcher seine Brust erhebt und mit ihr den schweren eisernen Amboß des Stoizismus trägt und der nun das Schicksal auf dem Amboß ohne Erschütterung schmieden lässet - nicht diese beiden, sondern du rührst mich am tiefsten, du, der alles empfindet und alles verhehlt, dem lange und schwere Jahre das trockne Auge und die unbewegliche Lippe gegeben, dem die blaßroten Rosenblätter, die sich über das nagende Würmchen krümmen und es verbergen, ohne Rauschen alle entsinken und der alle Menschen, die dich beklagen wollen, nur schmerzlich anlächelt und zu ihnen sagt: es fehlt mir nichts.....

Ich nahm mir vor, der Undertaker und curator funeris und Leichenbesorger beim alten armen Manne zu werden: ich griff deswegen in seine Taschen, die leider gleich Wespennestern und Fuchsbauen außer dem Eingang noch unten einen Ausgang hatten, und wollte mich in Besitz seiner hinterlassenen Briefschaften und andrer Verlassenschaft setzen. Die Erbschaftsmasse fiel aber kleiner aus, als zu vermuten war: sie belief sich auf einen Morgensegen und auf einen gelben zerbrochnen zerknitterten Brandbrief mit eingeschaltetem Wundzettel, worauf er aber - denn das wenigste war noch zu lesen - die letzten Jahre her unmöglich konnte gebettelt haben. Der Wund- und Brandbrief attestierte, Vorzeiger dieses sei ein Bergmann aus Viesel--- - vermutlich Vieselbach bei Erfurt -, seines Namens Zaus oder Saus (man konnte die Buchstaben nicht unterscheiden), Vater von zwei lebendigen Kindern, dem das Lossprengen des Steins den rechten Arm weggerissen. Den Morgensegen, in Sedez, mit Nomparel-Fraktur gedruckt, las ich nicht ganz hinaus, da es schon nachmittags war; die übrigen Segen im Büchelchen samt dem Einband hatte der Erblasser abgegriffen und weggebetet, und man muß auf die Vermutung verfallen, daß er abends den Morgensegen repetiert habe, der auf den Teufel, gegen den der Segen des Tages zweimal wie eine Doppelflinte gehalten wurde, wie ein Rikoschetschuß wirken mußte.

Ich ließ den stillen Siebenschläfer auf dem breiten, grünen Sterbebette und im Trauerhause der Erdkugel und nahm seine Relikten auf den Arm - den Hund - und ging in die Stadt zurück, um durch Polizei-Anstalten den alten Saus heute unter die Erde, worunter er so oft war, zum letzten Male zu bringen. Der Stadtrichter und der Adjunkt hatten ein froheres, geistreicheres Blut als Weinsolution im Herzen, und jener dankte dem Himmel für den Bettler, den er recht herrlich zum ersten Amtsaktus, zur Debit-Rolle verwenden konnte. Der Gerichtsfron zitierte als Leichenbitter den Schultheiß - dieser die Stadtgemeinde in die Holzung - ich und die zwei andern gingen voran hinaus. Das Ermenonville des Bergmanns, das statt der Zypressen Fichten um sich hatte, wurde bald mit Oberseesern, die heute faulenzen konnten, angefüllt.

Der Stadtrichter fing an und sagte: »als zeitiger wohlbestallter Gerichtshalter von Obersees verordne und befehl' er hiemit, daß der arme Bergmann Zaus ehrlich begraben werde noch heute.« Die halbe Trauerversammlung brummte: »Es kann auch ein Fallmeister sein, wir greifen ihn nicht an.« - Ich begann: »Hier ist ein Dokument, an das sich die Oberseeser Marktgemeinde halten kann.« - Ich verlas es. Die Weiber sagten (und guckten nach seinem Äquator, wo der Mensch und die Erde größere Dicke und höhere Berge hat als an den Polen): »sie könnten keines Arschleders ansichtig werden - er möge wohl aus weiter nichts sein als aus dem Schäfergeschlecht.« - Ein Garnweber sagte: »Vor drei Jahren hätte hier ein Schmierschäfer gerade mit einem solchen Pudel gebettelt, der aber bräuner gewesen sei.« - Ich antwortete: »Ich wills wiederholen, daß seine Briefschaften aussagen, daß er ein grundehrlicher, abgebrannter Bergknapp aus Viesel ist, und es wird Vieselbach heißen sollen, und er selber schreibt sich entweder Saus oder Zaus.« - Weyermann fügte mit dem Mute eines Trinkers dazu: »Dem ersten besten, der widerspenstig ist, lass' ich den toten Kerl vor die Türe schieben und dort stehen, bis er stinkt.«

»Sie werden,« - sagt' ich laut - »Herr Amtsrichter allhier, erlauben, anzumerken, daß ihn nicht alle auf einmal tragen oder einsenken können: die übrigen werdens nachher den Leichbesorgern im Soffe vorwerfen. Ich will ihn daher, gesetzt, er wäre nicht ehrlich, ehrlich machen, wie Professores dem Kadaver eines Missetäters das Fakultäts-Insiegel aufdrücken. Ich Hans von Torsaker, Großkreuz vom Seraphinen-Orden und Kammerherr aus dem Königreich Schweden, rühre dich, Johann Zaus, Bergknappe aus Viesel, mit dieser meiner heiligen Ordenskette und mit meinem Kammerherrn-Löseschlüssel an und erkläre dich auf undenkliche Zeiten für hinlänglich ehrlich und von ehrlichem Herkommen. - Nun könnt ihr ihn alle ohne Schaden angreifen.« - Der Schulz mußte zuerst, ab er sah aus wie einer, der einem Krampffisch an die Kehle greift und davon wie von einer berührten Bundeslade das Erschlagen befährt. Der Garnweber wollte bloß einige Male mit seinem Fuß an des Seligen Ferse stoßen; er wurd' aber höhern Orts angewiesen, mit der Hand Zausens Busen auszufühlen, ob nichts drinnen klopfe. Ein Schneidermeister nahm seine Elle zum Fühlhorn und zog es wie ein Visitiereisen über das ehrliche corpus; er mußt' ihn aber zur Strafe aufrecht setzen. Als im fehlenden cercle die Reihe an die Weiber kam: war keine hinanzubringen, und der verstorbne Zaus hatte unmöglich bei Lebzeiten eine Frau so sträubend berührt, als ihn hier jede berührte: denn der Vernunftgrund, warum es die Männer lieber taten und den ich oben vergessen - der nämlich, daß ich und das Gericht dem leidtragenden Kondukt zwei Eimer Leichbier zum Versaufen versprochen -, griff die Weiber wenig an. Ich ließ mir aber die Hand der nächsten spröden Dulderin reichen und tauchte solche auf des Alten Magen nieder. Eine zweite, die leicht über seinen dünnen Glatzen-Nachflor streifte, wurde genötigt, seinen Bart zu streichen, damit sie der dritten nichts vorwürfe, mit deren Hand ich sein rechtes Auge zu schließen suchte. Den furchtsamern wurde bloß gerichtlich aufgelegt, seine Weste - jede einen Knopf daran - aufzuknöpfen und - weil mehr Weiber als Knöpfe waren - richtig wieder zuzuknöpfen. - Der Hund fuhr gegen niemand los, gleichsam als wollt' er zu verstehen geben: mein Herr ist alle Arten von Angriffen schon gewohnt.

»Wir können abends in der Dämmerung«, sagt' ich, »auf dem Kirchhof wieder zusammenkommen und den alten Mann hintun, wo er hingehört. Ich erbiete mich, einen Leichen-Sermon umsonst zu halten, und dem Herrn Seelsorger wird es vielleicht auch auf einige geistliche Reden nicht ankommen. - Wenn wirs spät tun unter dem Gebetläuten,« sagt' ich zu Graukern, »so siehts doch aus, als hätte unser sel. Mitbruder ein Trauergeläute, das freilich tausendmal kürzer und leiser ist als das eines römischen Kaisers, und die paar Sternbilder am Himmel passieren für einige der nötigsten Gueridons mit Trauerkerzen.«

Wir gingen aus dem Parade-Trauerzimmer des Ordensheiligen fort, dessen Berührung gerade von dem moralischen Siechtum herstellte, womit andre heilige Reliquien anstecken. Weyermann besorgte das Leichenbegängnis; und ich ging ins Schloß zum Sequester zurück. Meine Klugheit hatte heute einen Bauerkrieg gegen die Ungläubigen im Ei zerdrückt, der der scheerauischen Regierung und dem Kaufherrn Oehrmann, die beide auf ehrliches Begraben dringen, Dinte und Federn genug gekostet hätte.

Im Schlosse räumte eben Eva meinen Schreibtisch auf. Ich faßte auf der Schwelle den Entschluß, endlich für Schnäzlern Sturm zu laufen, ich meine, sein Ofenheizer zu werden, nämlich sein Freiwerber. Ich setzte mich an den Tisch, den ihr Flederwisch abbürstete, und fing diesen und sagte nichts - sie auch nicht, sie geduldete sich: - »Die Flügel an meinen goldnen Engelsköpfen« (fing ich an) »sind mir nicht so lieb als dieser Gansflügel.« Das konnt' ich leicht deutlicher machen. Ich sagte darauf: »ich wär' ein Schulmeisters-Sohn aus Sawolax, hätte mich aber durch außerordentliche Verdienste aufgeschwungen zu einer solchen Höhe, und daher hätt' ich, wie jeder Schulmeister, einen besondern Hang zu Männern, wie der Herr Aktuarius juratus wäre, und zu Bräuten derselben, wie sie wäre.« Ich bauete dann in der Eile eine Ehrenpforte und Heroldskanzlei für Schnäzlern auf und sagte dann, ich würde mich schämen, sie zweier Worte gewürdigt zu haben, wenn sie gewiß den ausgeprügelten Ranzenadvokaten nähme. - Ich kam auf Schnäzlers Härung und insinuierte ihr, kein Kopf habe einen Zopf vonnöten als einer, der oben einen Federbusch trägt, ein Soldat nämlich, so wie bei den Römern alle Opfertiere einen langen Schwanz1) besitzen mußten: denn dieser Haarsperrstrick und Schwanzriemen soll' es bloß dem nachsetzenden Feinde erschweren, einen militärischen Läufer oder Sturmläufer von hinten zu köpfen. Endlich führt' ich den Beweis durch Zeugen und Urkunden am besten durch meinen eignen Kopf, den ich sie oben zu betrachten bat, weil nichts auf ihm ist. Ich sagte ihr, unter Leuten von Stande wären jetzt Haare ungewöhnlich, wenn nicht unschicklich, und Haarwuchs sei immer, man sage, was man will, ein umgekehrter Bart in aufsteigender und Seitenlinie.

Daran glaub' ich aber noch jetzt. In unmännlichen Zeiten wie unsern sucht sich jeder von den Weibern wenigstens dadurch zu unterscheiden, daß er kahl wird, welches diese nicht vermögen. Ein verständiger Mann wählt aber, da die jesuitische Tonsurierung so sehr verschrien wird, lieber die griechische2) und beugt den Vermutungen der Berliner Monatsschrift vor; nur stößt er, wenn sonst die Ritter auf einmal den Vorderkopf beschoren, um nicht von Feinden daran gepackt zu werden, seine Haare - man solls weniger merken - einzeln ab und tut also das weg, womit ihn Feindinnen an sich ziehen könnten. Daher man auch in den höhern Ständen nicht eher heiratet, bis man kahl genug ist, und auf eines Weibes Haupt immer eine Glatze: die Weiber gleichen den Schäfern, die die Hammel und Schöpsen nicht eher kaufen - weil sonst nichts zu sehen ist - als gleich nach der - Schur.

Ich fuhr fort und zeigte, »wie ich den Kantor liebte, da ich Dinge für ihn unternähme, die ich nicht für meine Cousinen täte«. Ich ließ sie dann nicht lange in Sorgen, ob ich mich bedenken oder weigern würde, ihr - wiewohl drei Kammerherrnknöpfe und noch dreimal soviel Engelsköpfe an mir hingen - ihr, sobald ich damit Schnäzlers Glück zu machen wüßte, soviel als Kaufschilling zu geben auf ihre - Lippen, als recht und christlich wäre. Ich wußte, was ich sagte und wollte und daß ein Mann seine Gaben viel gescheuter für Geschenke als für Injurien ausgibt: ich tat ihr ein hohes Gebot von 10 Injurien (Geschenken). Sie schwieg betroffen und nötigte mich, da ich das Schweigen für ein höheres Darüberschlagen nehmen mußte, noch weiter hinaufzugehen. »Schönste Jungfer,« sagt' ich, »ich verstehe mich endlich zur doppelten Summe, wenns Herrn Aktuarium juratum glücklich machen kann - Personen wie Ihr, Schönste, legt man ohnehin lieber den Mund als die Hand auf den Mund. Aber jetzt denke Sie nach - Großkreuze aus Schweden mit einer blauen Kugel sind rar, Evchen, und dergleichen kann eine Jungfer selten zum Munde führen - in der Stadt werden die vornehmsten Damen oft, Jungfer, von keinem Seraphinen-Ritter geküßt. - Ein Wort! ich biet' Ihr jetzt, was Sie fodert - eingeschlagen!« Dieser Klimax machte sie ganz irre, und es war nicht sowohl das Wenigste, daß sie schwieg, als das Gescheuteste. »Noch das letzte! Ich glaube, Sie ist christlich und ehrlich und übersetzt keinen Seraphinen-Ritter: hier will ich Ihr auf Ihre Rechtschaffenheit vorausbezahlen und nicht einmal unterdessen zählen.« Ich hielt Wort und zählte nicht. »Ach!« sagte sie darauf; und dieses weibliche Ach ist so schön, daß es viele verleitet, das Zählen von neuem zu vergessen. Ich schlug ihr nun vor, mit mir auf den Kirchhof zu ziehen, wo der Aktuarius sein müsse. Nach einem solchen Ach bewilligt jede gute Miß nichts lieber als etwas Kleineres, eine Begleitung nach dem Kirchhof. Es war damals nur Zufall, was hätte bewußte Absicht sein sollen, daß ich auf ihr ja für Schnäzlern nicht schärfer drang: man muß diesen Holden immer ihr mattes Ja, Nein - ihr chiaroscuro - lassen, und wer von ihnen eine bestimmte Antwort ertrotzt, wird mit einer fortgeschickt, die seinem und ihrem Wunsch zugleich zuwider ist. Überhaupt ists mit Ratgebungen wie mit Büchern, die aufklären: beide gleichen den Schneeflocken - die ersten zerfließen nach dem Fallen, aber wenn es weiter schneiet, setzen sich einige fest, und dann wird Schlittenfahrt.

Ich und Eva zogen vor dem umzingelten Maienbaum vorbei nach einem stillern Orte, wo tiefere Fahnen knarrten; wir fanden im bunten Kirchhofe niemand, nicht einmal den Kantor. Der Hof war wie ein englischer Garten voll weißer Obelisken, liegender Götterstatuen im Grünen, aber die Ruinen waren unter der Erde - die palmyrischen Rudera der zerschlagnen Seelen-Tempel deckte der blühende Boden mit großblätterigen Blumen zu. Die Hintertüre des Hofs war wie Zausens Höhle darneben schon offen; und aus der auf einem Hügel zerfließenden Sonne rann ein breiter Scharlachstrom von Abendlicht durch die aufgezogne Schleuse des Tors herein, und man sah - wenn man sich ins Gras hinein bückte - die grünstämmige Blumenwaldung vergrößert und auseinandergerückt in den dunkelroten Gängen des tiefen Schimmers mit den Blumengipfeln aneinanderschlagen. Ich und Eva setzten uns auf eine bunte Anhöhe, die gleichsam einen neuen Blumenbusch an den unter ihr wohnenden Busen steckte, auf dem der mitgegebne kleine längst zerfallen war.

Endlich sah ich drüben den Kantor vorauskommen: er konnte mich besser erkennen als ich ihn im blendenden Abendglanze. Indem ich jetzt noch einmal Evas Ausschlagen seiner Hand bedachte und zufällig mit meiner in die Tasche kam: geriet ich auf einen Gedanken, von dem mehrere es mit mir bewundern werden, daß ich so spät darauf verfiel. »Schönste Tochter,« - sagt' ich - »hierum müssen wohl die Gräber Ihrer sel. Eltern liegen - wenn wir nicht schon auf einem davon sitzen -, die es auch haben wollten wie ich, daß Sie den Herrn Aktuarius juratus nimmt. Und Sie hats ihnen so heilig gelobt. - Bricht Sie Ihr Wort: so ists soviel, als schlägt Sie nach Ihren sel. Eltern im Grabe. Und wie es solchen Kindern, wenn sie selber hineinkommen, ergeht, davon sah' ich heute ein betrübtes Exempel im Gerichtsschrank: sie stecken nämlich ihre verruchte Hand daraus hervor. Hier trag' ich eine in der Tasche bei mir.« - Ich brachte sie hervor und hielt ihr sie hin. Sie sprang bestürzt vom Grabe auf und sagte weinend: »Wenns Gottes Wille so sein soll: so hab' ich auch nichts dagegen - in Gottes Namen!« Jetzt rief ich und winkt' ich wie besessen dem Kantor: er sprengte heran. Ich ergriff schleunig Evas Hand und drückte sie in Schnäzlers seine und sagte: »Gebet einander die rechte Hand und saget Ja - und der Herr segne euch und behüte euch - und kommt recht spät in den Kirchhof, ausgenommen bei Lebzeiten, er zum Läuten und sie zum Grasen.« -

So schwärzte ich sie also aus einer profanen Frau zu einer geistlichen um durch die Pille, unter der ich oben den Kantor vorbildete und die jenen Pillen glich, die aus einem in acido vitrioli aufgelösten Silber bestanden und einen Patienten von Fuß bis auf den Kopf schwarz färbten (Neueste Mannigf. 2. Quart. 2. Jahrg. p. 414).

Das Leichenkondukt kam jetzt zum Tore herein und verbauete nur den glimmenden Hügel, der schon die Sonne verdeckte. Der Bergmann wurde hingesetzt und Herr Adjunkt allgemein ersucht, uns alle zu erbauen aus dem Stegreif. Er stellte sich hin, schneuzte sich, um doch etwas statt des Hauptliedes vorauszuschicken, und hob an: »Wirft der erprobende Christ und Nichtchrist teils auf die Bestrebungen menschlicher Tätigkeit Blicke, spürt er teils der menschlichen Vervollkommung schon in dem Begriffe eines vollkommensten Wesens nach: so« - - So und nicht schlechter fährt der Sermon fort, den ich kein Recht habe, hier nachzudrucken und das Honorar dafür zu ziehen.

Die Reihe kam an mich, der ich erst von einer Hochzeitpredigt herkam. Der Blasse wurde aufgedeckt - das Abendrot legte sich um die lebendigen Wangen und das Mondlicht um die erblichnen - die Gebetglocke summte aus - eine Lerche stieg noch über uns - und der Abendwind lief drüben in grünen Wogen über die Kornfelder, als ich anfing:

»Herr Amtsrichter Weyermann,
Herr Adjunktus Graukern,
andächtige Zuhörer und
guter alter Saus!

So wird dich in vielen Jahren kein Mensch geheißen haben, sondern Landstreicher oder so was - außer heute. In vielen Jahren sind nicht so viele freundliche Gesichter um deines gestanden - außer heute, wiewohl in deinen gefrornen Augen der schwarze Star des Todes ist. In vielen Jahren bist du nicht so bald zu Bette gegangen und so wenig durch Schenkwirte gestört worden außer heute, an deinem längsten Rasttage. Und dieses einzigemal, Alter, legst du dich nicht hungrig nieder und stehst nicht hungrig auf.... Oberseeser! ist einer unter euch zähe und mühsam zu rühren: so folg' er mir jetzt nach, wie ich neben dem alten Zaus nur einen Tag hergebe, weil ich seine Leiden, seine Mücken- und Sonnenstiche zählen will.

Wir wundern uns schon über das matte, gedehnte Erwachen des armen Mannes im Hirtenhause: es ist ihm nicht recht, daß die ruhige Nacht so hurtig abgelaufen ist, in der er nicht marschieren und nicht singen durfte; und müder als der Gemeinbote, hilft er sich aus dem Hirtenhause heraus, und draußen steht ein breiter, langer Tag vor ihm, der ihm nichts gibt und verspricht als das alte schmale Botenlohn von einem Heller vor jeder Haustüre. Auf etwas Neues, Sonderliches kann er sich nicht spitzen: ein Bettler, ihr Leute, hat weder Ostern noch Pfingsten, noch Sonntage, noch Marientage, noch Markttage in der Stadt - 365 Werkel- und Jammertage hat er in seinem bittern Leben und wahrlich nicht eine Stunde mehr... Ihnen, Herr Amtsrichter, Herr Adjunktus, brauchts als Gelehrten nie gesagt zu werden, daß nichts fataler ist beim Aufwachen, als wenn ein Alltags-Tag, ein ausgeleerter, prosaischer, tausendmal gefolgter oder gestürzter Treberntag vor der Bettlade steht und uns empfangen will. -

Wir wollen wieder hinter Zausen hersein: außerordentlich muß er laufen, zumal wenn ihn hungert, um nur ein Dorf zu erlaufen. Auf jedem Berge verspricht er sich, in eines hinabzuschauen; aber wie müde knickt er den Berg herunter, wenn er nichts gesehen als einen neuen, ebenso hohen! Er watet durch Kornfelder und nasse Wiesen hindurch, worin man ihn kaum sehen kann; aber der Segen Gottes gibt ihm schlechte Freude - er hat nichts davon, er darf daran nicht einmal helfen mähen, er geht in seinem Leben nicht wieder durch. Endlich lauft er in einem ritterschaftlichen Dorfe ein, wo Kirmes ist: überall riecht und raucht das beste Essen. Was hilft es ihm, wenn er unter lauter Tischgebeten herumgehen muß und an keinem mitbeten darf? Er faltet den Brandbrief, der wie sein Herz schon tausendmal zusammengebrochen worden, wieder auf und weiset ihn vor; aber das lustigste Kirmesgesicht setzt er durch seinen Brief plötzlich in ein verdrießliches um, und wie will er anders? Aber darnach fragt er auch nichts mehr, er fragt, seitdem er den Bettelstab statt des Fäustels ergriffen, nach der ganzen Welt nichts mehr - denn die ganze Welt fragt nach ihm nichts mehr, wiewohl sein braunes Hündchen christlicher denkt und auszunehmen ist. - Die ganze Welt soll ihn schimpfen und lästern, es tut ihm gar nicht wehe, er wird nichts mehr auf der Erde, so wenig wie euer Vieh kann er etwan ein Zweispänner oder gar ein Vierspänner, geschweige ein Schultheiß werden, eines Schulmeisters gar nicht zu gedenken. Ihr wollt alle haben, daß man eurer gedenke; er aber verlangt nichts, als daß man seiner vergesse. O du guter, jammervoller Mann! Seht, wir stehen jetzt alle um ihn; aber wenn dieser Tote in dieser Minute sich vor uns aufrichtete, so würde er nichts tun, als die welke braune Hand ausstrecken und sagen: ›Teilt einem armen Abgebrannten auch was mit!‹ und er würde uns drei Herren zuerst anbetteln. Ich würd' ihm von ganzem Herzen etwas geben: leerer Toter! wer könnte das metallne, eiserne Herz haben und einen eisernen Brief aufschlagen und ihn doch leer zurückgeben und dir die kleinste Freude versalzen, die auf der ganzen Erde nur möglich ist, die über eine Gabe? - Wer unter uns? Ach Gott! was hat denn der Bettler auf unsrer reichen, vollen Erde? Viel tausend Wunden und tausend Zähren und nur einen Heller. O wenn du aufwachtest, Alter, würdest du nicht in der Menschengestalt vor uns stehen, mit dem Magen, mit dem Herzen, mit dem Jammer eines Menschen? - Und verdienen wir etwas Bessers als du, mehr unsre großen Gaben als du die kleinste? O! was könntest du getan haben, daß du keinen Bergknappen hast, der mit dir einen Krug Bier trinkt, keine Frau, die dich pflegt und dich fragt, was dir fehlt, keine Kinder, die deine Finger spielend anfassen und dich sanft an ihren kleinen Busen hinunterziehen, sondern nur andre Kinder, die eher nach dem alten Manne boshaft werfen! - Wenn ich jetzt diesem geplagten Vieselbacher, dessen Herz doch schläft, so recht hineingehe ins zusammengeknitterte Gesicht voll Erde des Alters, mit dem fest an die obere Kinnlade heraufgestülpten Unterkinnbacken - in seine paar Haare, in die nicht Abendlüftchen geblasen haben, sondern reißende Stürme - in seine grauen Augenbraunen - in seinen leeren rechten Ärmel, wiewohl im linken auch nichts ist als ein Knochenpaar - in seine roten Augen, die er gewiß erst nach dem Tode und von keinen größern Stacheln holte als von Insektenstacheln - wenn ich das tue: so kann mich das wenig oder nicht trösten, daß der Tod schon alles gestillt hat, seine Augen und seine Wunden, sondern nur das, daß du, o großer guter Vater über uns, die schöne Einrichtung getroffen, daß uns angefallnen Menschen der zweite traurige Tag niemals so wehe tut als der erste traurige.

Ich sehe jetzt in eure Seele, Oberseeser: ihr wollt ihm gerne etwas geben; aber schauet auf zu den Sternen, er reicht seine Hand nicht droben herunter zu eurem Almosen und bedarf nichts mehr, keine Träne, keinen Leib nicht, diesen Sarg nicht. Aber er schickt seine Geschwister unter uns herum: o! wenn ihr in eurem Leben nur einen Bettler gesehen hättet: ihr würdet ihm alle geben und euch um ihn schlagen; anstatt daß ihr ihn jetzt selber schlagen lasset durch den Bettelvogt, weil es euch etwas Gewohntes ist.

Sinke aber endlich hinab in das breite Lager der Ruhe, auf dem so viele Tausende neben dir mit ganzen und mit abgefallnen, zerstäubten Rücken liegen! Unter diesen kleinen, grünen Häusern um uns wohnen nur Ruhige. - Du brauchtest keinen Abendsegen im Leben, weil dich die Nacht viel weniger anfiel als der Tag - und jetzt, da der schwere Tod sich über deine Augen und Ohren gelegt, hast du ihn noch weniger vonnöten. Gehe sanft auseinander, altes, gedrücktes, oft zerbrochnes Menschengerippe! Kein Kettenhund, kein Bettelvogt, kein wütiger Hunger erschrecken dich mehr und treiben dich auf. - Aber wenn du dich einst aufrichtest, so wird ein andrer Mond am Himmel stehen als jetzt, und deine freie, ewige Seele wird groß und reich unter alle Menschen treten und sie alle um nichts mehr bitten! - Ihr Lieben, wenn wir fortgehen, so legt sich der Tod stumm zu ihm hinein und nimmt ihm sanfter als den rechten Arm die übrigen Glieder ab, in denen noch alle unsre Schmerzen fortreißen. Aber wenn wir uns aus dieser stillen, ungezählten, unter dem Grün schlummernden Gesellschaft absondern und wieder näher in die frohen Töne treten, die wir jetzt schwächer in den Gottesacker herauf vernehmen und nach denen eure Söhne und Töchter um den kurzen Abend flattern; wenn wir von hier weg sind: so wollen wir doch an alles das denken, was wir hier entweder zurückgelassen - oder zugedeckt - oder angehört - oder bejammert - oder beschlossen haben. Amen! Und gute Nacht, alter Mann!« -

*

In wenig Minuten deckte ihn auf immer die Erde mit ihrem dunkeln, von Blumen durchwirkten Kleide zu. - Ich will den kleinen, leichten Rest der Geschichte den traurig-schönen Gefühlen guter Leser durch Verstummen opfern und schweigend mit meinem Buche von ihnen weggehen, damit ihr feuchtes Auge voll Träume noch einige Minuten auf dem letzten und tiefsten Schachte, worein unser armer Bergmann verschwand und dessen Auszimmerung und Grubenlichter und schimmernde Adern wir alle nicht kennen, suchend und sinnend ruhen bleibe, besonders da sie, wenn sie an dem, der jetzt fortgeht, oder an sich selber heruntersehen, an jenem und an sich den ganzen Berghabit zur Einfahrt schon erblicken....

Ende des ersten Teils